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Der Griff nach der Bildung

18. Februar 2013

Die Umgestaltung unseres Schulwesens nach der Ideologie des Neoliberalismus

von Dr. Alfred Burger, Zürich

In den letzten Wochen und Monaten wurde deutlich, dass weltweit operierende, einflussreiche Finanzkreise zur Befriedigung ihrer Geld- und Machtgier nicht davor zurückschrecken, ein Geschäft mit den Grundbedürfnissen der Menschen zu machen und ganze Volkswirtschaften zu ruinieren.

Angesichts der heutigen Situation müssten verschiedene wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahre, die ein Unbehagen bei den Menschen hervorgerufen haben, nochmals durchdacht werden. Transparenz in der Analyse ermöglicht klares Denken, zeigt Handlungsperspektiven auf und macht Widerstand möglich. Beispielhaft sollen hier die Veränderungen im Bildungsbereich näher betrachtet werden.   «The state’s objective would be better served by a competitive educational market than by a governement monopoly. […] As in other industries, such a competitive free market would lead to improvements in quality and reductions of cost.»1   Dieses Zitat von Milton Friedman, dem wohl bekanntesten Vertreter des Neoliberalismus, der heute in der einen oder anderen Form Grundlage der Wirtschaftsordnung in den allermeisten Industrienationen geworden ist, zeigt, wohin die Reise im Schulwesen gehen soll. Friedman sieht demzufolge in einem auf Wettbewerb ausgerichteten privaten Schulwesen eine Verbesserung der Schulqualität und eine Verminderung der Kosten. Er will das Bildungswesen den gleichen Steuerungsmechanismen aussetzen, wie er das für die Wirtschaft machte, damit die Effizienz erhöht werde. Friedman plädiert dafür, die öffentlichen Schulen zu privatisieren, damit der Staat nicht mehr für die einzelnen Schulen aufkommen muss und diese autonomer werden. Die Erziehungsdienstleistungen werden dabei von gewinnorientierten Unternehmen angeboten. Bereits heute gehen in den USA Hunderttausende von Kindern in Schulen, die von Bildungsunternehmen, wie z.B. Edison, geführt werden. Der Staat hat nur noch die Aufgabe, einen Mindeststandard zu garantieren.  

Bildung und private Trägerschaften

Friedman schlägt «Bildungsgutscheine» vor, die es den Eltern ermöglichen, die Schulen auszusuchen, die sie für ihr Kind am besten halten. Damit werde der Wettbewerb unter den Schulen angeregt, und ihre Qualität werde besser. Die bestehenden Schulhäuser und andere öffentlichen Einrichtungen können an Unternehmen verkauft werden. Das ist nicht nur in den USA und anderen angelsächsischen Ländern heute bereits Wirklichkeit, sondern auch in Deutschland, wo ganze Verwaltungen und auch Schulhäuser an private Firmen verkauft werden. Experten fordern eine radikale Bildungsreform mit einer grösseren Autonomie der Schulen. «Schulen sollen zwar staatlich finanziert, aber von privaten Trägern geleitet werden.»2 Doch was hat das mit unserem Bildungswesen in der Schweiz zu tun? Sehr viel, meine ich, auch wenn dieser Hintergrund lange Zeit bei uns nicht wahrgenommen wurde.

Neoliberales Denken in allen Gesellschaftsbereichen

Schon seit über zwanzig Jahren bewegt sich etwas in der schweizerischen Bildungslandschaft. Ein wesentlicher, leider lange Zeit übersehener Hintergrund zu den Veränderungen auch in unserem Lande war die neoliberale Theorie der Chicagoer Schule von Milton Friedman. Auf der ganzen Welt, wenn auch mit verschiedener Herangehensweise, sollten die Menschen auf neoliberales Denken eingestellt werden. Ökonomische Überlegungen wurden Grundlage für alle gesellschaftlichen Bereiche, d.h. nicht nur auf dem eigentlichen Gebiete der Marktwirtschaft, sondern auch auf Gebieten, die bis anhin von den Staaten und den Gemeinwesen selbst organisiert und geregelt wurden, wie das Gesundheits-, Bildungs- und Transportwesen, die Wasser- und Elektrizitätswirtschaft usw. Vertreter von Friedmans Chicagoer Schule haben schon zur Zeit der Pinochet-Diktatur in Chile und auch in anderen südamerikanischen Ländern Feldexperimente durchgeführt, wie eine Durchdringung neoliberalen Denkens in alle gesellschaftlichen Bereiche aussehen könnte. Mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung notabene. Armut und eine zunehmende Zweiteilung der Gesellschaft waren die Folgen.   Auch in unserem Lande ist die Deregulierung, Liberalisierung oder Privatisierung schon weit vorangeschritten. Denken wir nur an die Telekommunikation, an die Elektrizitätswirtschaft und das Gesundheitswesen. Weitere Schritte sind geplant. Die Ökonomisierung macht auch vor der Bildung nicht Halt und schreitet zügig voran. Der Hintergrund der Veränderungen im Bildungsbereich kann aber von den Bürgerinnen und Bürgern nicht leicht erkannt werden.

Vorgeschobene Kritik

Angefangen hat es in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts mit Angriffen auf die Schule, die angeblich in verknöcherten Strukturen und in althergebrachter Didaktik mit Frontal- und Klassenuntericht wie zu Grossvaters Zeiten erstarrt gewesen sei. Obwohl bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts der Schule in der Schweiz von der OECD immer ein gutes Zeugnis ausgestellt worden war, weil sie demokratisch verwurzelt war, allen Kindern eine Chance gab und die meisten Kinder auf ein gutes Niveau brachte, sollte sie radikal umgebaut werden. Zuerst wurden die Unterrichtsmethoden hinterfragt und geändert. Die Lehrer sollten den bewährten Klassenunterricht aufgeben und mit der sogenannten Individualisierung (Wochenplan, Freiarbeit, Werkstattunterricht usw.) beginnen müssen. Dabei gibt es bis heute keine einzige wissenschaftliche Untersuchung, die einen Vorteil individualisierender Methoden belegen könnte. Im Gegenteil: Die Leistungen der mittleren und schwächeren Schüler gehen mit diesen Methoden zurück.3

Aufbrechen demokratischer Strukturen

Viele Lehrer in unserem Lande wollten darum ihre bewährte Arbeitsweise mit der Klasse nicht umstellen. Nun wurden Strukturen geändert und den «heutigen Bedürfnissen» angepasst. Was demokratisch gewachsen war, wurde aufgebrochen und abgeschafft, wie z. B. die Bezirksschulpflegen im Kanton Zürich oder das Inspektorat im Kanton Aargau; die Schulaufsicht wurde hierarchisch organisiert. Im ganzen Lande wurden die Volksschulgesetze so umgearbeitet, dass die schon lange im voraus geplanten Veränderungen nicht mehr von den Bürgerinnen und Bürgern rückgängig gemacht werden konnten. Die Bevölkerung hat mittlerweile den direkten Einfluss auf ihre Schulen verloren.   Die von oben verordneten Veränderungen führten zusammen mit demographischen Entwicklungen zu einer zunehmenden Heterogenität in den Schulklassen, was die Individualisierung, bei der jedes Kind für sich nach seinem Tempo und zunehmend nach seinen Wünschen lernt, fast unvermeidlich macht. Unterdessen werden in den pädagogischen Hochschulen fast nur noch individualisierende Methoden gelehrt. Schliesslich erleben wir heute mit HarmoS einen Schub in Richtung Zentralisierung des Schulwesens in der Schweiz und die sukzessive Einschränkung der kantonalen Hoheit über die Schule. Wenn wir in der Folge etwas genauer auf die einzelnen Aspekte der laufenden Schulreformen eintreten, werden ihre Zusammenhänge mit der neoliberalen Ideologie offensichtlich.

Türöffner für den Markt

Da ist einmal die Errichtung von autonomen Schuleinheiten zu nennen. Diese Strategie stammt aus den USA und entspringt dem neoliberalen Denken Milton Friedmans. Mit der Autonomisierung oder der sogenannt wirkungsorientierten Schulreform sollen die Schulen von der staatlichen Abhängigkeit befreit werden, wobei dann die Wirtschaft und die Bildungsindustrie die Aufgaben des Staates übernehmen.4 Die Schule hat erweiterte Kompetenzen, sie organisiert sich in einem bestimmten, vom Staat vorgegebenen Rahmen selbst. Sie erhält ein Globalbudget und muss ihre Aktivitäten danach richten. Damit entsprechen die Schulen den privaten Unternehmen. Sie sind wie die anderen Firmen im Staat von Regulierungen und Gesetzen möglichst zu befreien.

Mindestanforderungen genügen

Der Staat hat nur für einen Rahmen zu sorgen und die Regeln des Spiels festzusetzen. Friedman findet, der Staat solle sich darauf beschränken, einen Mindestkatalog zu verlangen, so wie er heute in Gastwirtschaften auf bestimmte Mindestanforderungen in sanitärer oder hygienischer Hinsicht schaut.5 Bei uns werden darum die Schulen nur noch als Ganze beurteilt, die Arbeit der einzelnen Lehrkräfte ist nicht von Interesse. Es geht um die Wirkung und den Auftritt der verschiedenen «Schulfirmen» als Ganze. Dazu gehören auch ein eigenes Logo, ein eigenes Leitbild im Sinne einer Corporate Identity mit Lehrkräften, die alle im gleichen uniformen Sinne arbeiten.   Auch die Privatschulen im Kanton Zürich werden nicht mehr wie früher von gewählten Volksvertretern kontrolliert, ob sie einen der öffentlichen Schulen entsprechenden Unterricht bieten. Alle zwei Jahre überprüft ein Angestellter der Bildungsdirektion, ob gewisse Normen wie Ausbildung der Lehrkräfte, Raumverhältnisse, Einhaltung der Unterrichtssprache usw. eingehalten werden. Schulqualität und wie konkret gearbeitet wird, ist nicht mehr von Interesse, darüber «entscheide der Markt», wie es heisst.

Ranglisten für das Produkt Schule

In der autonomen Schule geschieht die Steuerung durch den Staat nicht mehr administrativ, sondern in Form von Massnahmen wie Organisationsentwicklung und Supervision, die mithelfen sollen, die Schulen auf einen ähnlichen Stand zu bringen, damit man sie untereinander vergleichen kann. Dafür ist Qualitätssicherung nötig, d.h. Einführung von Leistungsuntersuchungen mit standardisierten Tests. Regionale Unterschiede dürfen darum nicht mehr gewichtet werden. In Schulen, die einen hohen Anteil an fremdsprachigen Kindern haben, müssen Ausgleichsinstrumente geschaffen (z.B. mehr Geld für Zusatzstunden) oder ein Sozialindex erstellt werden, damit Vergleiche möglich werden. Und vergleichbar müssen die Schulen werden, damit die Kunden   – Eltern und Kinder   – entscheiden können, in welche Schule sie gehen möchten. Die Vergleichbarkeit ermögliche ein Ranking unter den Schulen, was die einzelnen ansporne, sich zu verbessern. So wie die Eltern auf Grund der Qualität und der Preise von verschiedenen Produkten entscheiden können, von welcher Firma sie kaufen möchten, werden sie sich dann die beste Schule für ihr Kind auswählen können. Das ist in angelsächsischen Ländern schon gang und gäbe.   Auch hierzulande steht das an: So ist ein wesentlicher Punkt bei «HarmoS» die Einführung standardisierter Test für die ganze Schweiz, damit Vergleiche gemacht werden können. Die Sprachentests werden dabei ganz von den europäischen Vorgaben (Europäisches Sprachenportfolio) übernommen.

Management und Kundennähe

Ganz ausdrücklich wird im Zusammenhang mit den zukünftigen Schulen auch von «Kundennähe» und «Kundenorientierung» gesprochen. Die Zürcher Regierungsrätin hat nicht zufällig bedauernd erwähnt, dass es für den Einsatz von Schulleitern, die eine Manager-Ausbildung an der Universität abgeschlossen haben, noch etwas zu früh sei.   Dann soll auch daran erinnert werden, dass der frühere Regierungsrat Buschor Ökonomieprofessor war, der sich vorgenommen hatte, dass im zürcherischen Schulwesen «kein Stein auf dem anderen bleiben dürfe». Er hat in St.Gallen und in den USA studiert, auf das angelsächsische Modell immer speziell hingewiesen und zuerst das zürcherische Gesundheitswesen und danach den Umbau des Schulwesens im Sinne neoliberaler Grundsätze massgeblich bestimmt, zusammen mit seinem Freund Rolf Dubs   – ebenfalls Wirtschaftsprofessor aus St.Gallen, der sich immer stark gemacht hat für die autonome Volksschule. Dabei schrieb dieser aber, dass die Autonomisierung keine pädagogischen Vorteile ergebe und ihr positiver Effekt auf die Schulqualität nicht wissenschaftlich erwiesen sei.6 Auch andere Untersuchungen der Universität St. Gallen zeigen, dass die nun hierzulande eingeführten Strukturreformen in Neuseeland z.B. einer Zweiklassenschule Vorschub geleistet habe.7   Das alles belegt, dass es bei diesem Umbau um ökonomische Strukturen geht und nicht um Pädagogik und die Kinder. Zugleich steht dieses Vorgehen der Befürworter für die Falschheit und Unehrlichkeit, mit der sie die Reformen schleichend und ohne Diskussion am Volk vorbei mittels «Guerilla-Taktik»8 durchdrücken. Mit schönen Begriffen wie Autonomie, Individualisierung, selbstbestimmtes Lernen, Chancengleichheit(!) usw. soll dem Bürger etwas schmackhaft gemacht werden, das keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhält.

Ein Minimum an Bildung gewährleisten

Nach Milton Friedman muss der Staat für Menschen, die im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht mehr mitkommen, wenig­stens gewisse elementare Bedürfnisse befriedigen, mehr aber nicht. Darum werde auch immer ein gewisses Mass an natürlicher Arbeitslosigkeit bestehen bleiben. Dieser Anschauungsweise entsprechend muss auch die Schule nur eine Sockelausbildung gewährleisten, was heute zum Credo aller Bildungspolitiker geworden ist. Was darüber hinausgeht, ist Sache der einzelnen Schüler und ist ihnen freigestellt. Zusätzliche Ausbildung muss daher auch selbst finanziert werden, dafür gibt es keine staatlichen Stipendien mehr wie früher. Wie in der Wirtschaft ist jeder frei, im Wettbewerb das zu erreichen, wozu er fähig ist. Die freie Marktwirtschaft erhebt die Entscheidungsfreiheit des Individuums ohne staatliche Eingriffe zum Prinzip. Die Selbstverwirklichung des Einzelnen gilt darum als bestes Mittel, Bedürfnisse zu befriedigen und die Freiheit zu erlangen.

Jeder sein eigener Unternehmer

Wie alle anderen Menschen tragen auch die Schüler für ihr Handeln die alleinige Verantwortung, sie müssen von früh an aus eigenem Antrieb und selbstverantwortlich lernen. Als Konsequenz steht deshalb in der heutigen Schule das selbstgesteuerte, individualisierte Lernen an erster Stelle. Dass jeder als sich selbst herstellendes System zum unverwechselbaren Urheber seines eigenen Lernerfolges werden könne, ist die neoliberale Botschaft des Konstruktivismus. In der konstruktivistischen Theorie gibt es vereinfacht gesagt keine objektive Realität, jeder konstruiert sich seine Realität, die für ihn stimmt, selbst. Selbststeuerung beim Lernen heisst aber nichts anderes als funktionsgerechtes Verhalten. Am Ende wird jeder zu seinem eigenen «Kleinunternehmer», und jeder Lernende ist für Erfolg oder Misserfolg selbst verantwortlich.9

Individualisierung   – ein irreführender Begriff

Mit der Individualisierung ist nicht gemeint, wie der Begriff fälschlicherweise vorgibt, dass die Lehrer die Kinder individuell fördern sollen. Es geht in erster Linie um einen Wechsel der Lehrerrolle. Schön gemäss des Credos Milton Friedmans tragen nämlich Schule und Lehrerschaft keine direkte Verantwortung für den Lernerfolg der Kinder. So wie auch eine Firma nur eine Verantwortung kennt, nämlich die Vermehrung des Gewinnes. Alle andere Verantwortung liegt in den Händen der Angestellten der Firma. Die ethischen Probleme, die sich daraus ergeben, werden dem Einzelnen überlassen.10

Der Lehrer als Coach

Genauso liegt es eben gemäss den Prinzipien der freien Marktwirtschaft in der Verantwortung der Kinder, ob sie lernen oder nicht. Dazu sind selbstverständlich nur Kinder in der Lage, die das Rüstzeug für eigenverantwortliches und selbstorganisiertes Lernen schon von ihrem Zuhause her mitbringen. Der neuen Lehrerrolle entsprechend darf der Lehrer die Kinder nicht mehr anleiten und zu einem gemeinsamen Ziel hinführen, er ist nur noch Coach, Animator, Lernbegleiter und stellt für die Kinder Material zusammen. Sie müssen sich aus dem Prozess der Erziehung heraushalten, weil das die Selbstbestimmung der Kinder einschränken würde. Die Formen selbstgesteuerten Lernens sind aber sozial selektiv, wie schon Henning Günther festgestellt hat. Sie bevorzugen die Kinder, die schon gelernt haben, sich zu disziplinieren und strukturiert zu arbeiten. «Im Windschatten der neoliberalen Rhetorik der Selbstentfaltung wartet eine immer rücksichtslosere Zweiteilung der Gesellschaft.»11

Kompetenzen statt Bildung

Wie heute in der Wirtschaft üblich, muss auch jede Person in der Ausbildung ein eigenes Portfolio führen, in dem aufgelistet ist, was sie im Laufe ihrer Schulzeit alles gelernt hat. Das soll schon im frühesten Schulalter geschehen. Gerade bei den Portfolios sieht man, dass es dabei gar nicht mehr um Bildung geht, wie sie früher verstanden wurde, es werden nur noch Fertigkeiten, sogenannte Kompetenzen verlangt, die belegen sollen, ob eine Schülerin oder ein Schüler für das Bestehen in der Wirtschaft genügend Module vorweisen kann. Der heute verwendete Kompetenzbegriff läuft auf eine permanente Selbstanpassung an die Bedürfnisse des Marktes hinaus.12 Mit dem Begriff «Kompetenzen» wird eine Objektivität und Wertneutralität vorgegeben. In Wirklichkeit werden diese «Kompetenzen» von der OECD (Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit   – einem Wirtschaftsverband) als Normen vorgegeben und entsprechen ihrer Vorstellung, was «in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben» notwendig sei.13 Die Menschen in Europa sollen sich also gemäss den Vorstellungen einiger Akteure in der OECD vorschreiben lassen, was ihren Kindern in den Schulen vermittelt werden soll. Die gleiche Stelle überprüft das dann mittels der Pisa-Tests auch noch.

Einspuren auf die Privatisierung

Es fügt sich alles zusammen: Auch HarmoS ist doch nichts anderes als ein Einspuren der überaus vielfältigen, regional angepassten schweizerischen Bildungslandschaft in ein vereinheitlichtes Schulsystem in der Schweiz, damit es OECD-konform unter ihre Vorgaben gezwängt werden kann. Ist es einmal soweit zentralisiert, stehen die Gats-Verträge (Vereinbarung über die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, wie z.B. des Bildungswesens) schon bereit, die der Bund ohne Volksbefragung unterschrieben hat, damit das geplante, aber nie ausgesprochene und stets abgestrittene Endziel, nämlich die Öffnung und Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens nach angelsächsischem Vorbild, vorangetrieben werden kann. Die direkte Demokratie muss in diesem Prozess als «Handelshemmnis» auf der Strecke bleiben.

Folgerungen

Auch wenn nur einige wenige Punkte angeschnitten werden konnten, wird doch deutlich, dass in den letzten Jahrzehnten eine schleichende Ökonomisierung unseres Schulwesens stattgefunden hat. Deregulierung, Privatisierung und Autonomisierung erfassen zunehmend auch die Schulen in unserem Lande. Wir können die Entwicklungen in der Schweiz, z.B. die Vereinheitlichung unserer Schulsysteme mit HarmoS, nicht losgelöst von denen in anderen Ländern betrachten. Meyer und Ramirez, zwei Stanforder Bildungsforscher, bezeichnen diese Tendenzen als Teil einer «World Education Ideology».

Da der Zusammenhang zu Milton Friedmans Chicagoer Schule und dem Neoliberalismus, der uns in eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen geritten hat, ganz offensichtlich ist, muss dringend ein Marschhalt stattfinden, damit die Bevölkerung in der Schweiz sich Gedanken machen kann, ob sie mit den Schulreformen in dieser Richtung fortfahren will oder ob angesichts des jämmerlichen Versagens dieser Theorien nicht eine Rückbesinnung auf die Pädagogik nötig wäre, um eine Volksschule einzurichten, die sich an wissenschaftlich haltbaren pädagogischen Theorien orientiert statt an den völlig haltlosen Theorien des Neoliberalismus. Die Frage stellt sich, weil wir sonst wie heute in der Wirtschaft im Bildungsbereich in 20 Jahren vor einem Kollaps stehen werden mit sehr weitreichenden Folgen für das Leben unserer Jugend und unserer Demokratie.

Fussnoten:

  1. Friedman, M., in: Wall Street Journal, December 5, 2005
  2. www.sueddeutsche.de/politik/134/402914/text, 13.7.2007
  3. vgl. Günther, H., Kritik des offenen Unterrichts. Bielefeld 1996
  4. vgl. Steiner-Khamsi, G., Szenario 2010 zur wirkungsorientierten Schulreform, in: VPOD-Magazin 108/98
  5. vgl. Friedman, M., Kapitalismus und Freiheit, ­München 2002, S. 113
  6. vgl. Dubs, R., Teilautonomie der Schulen. Annahme, Begriffe, Probleme, Perspektiven, in: Paderborner Universitätsrede, Paderborn 1999, S. 7
  7. vgl. Eberle, F., New Public Management im Neuseeländischen Bildungswesen. Institut für Wirtschaftspädagogik, St. Gallen 1999, S. 45
  8. vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 18.2.1992
  9. vlg. Pongratz, L.A., Konstruktivistische Pädagogik als Zauberkunststück, in: Pongratz, L.A./Nieke, W./Masschelin, J., Kritik als Pädagogik   – Pädagogik als Kritik. Opladen 2004
  10. vgl. Friedman, M., Kapitalismus und Freiheit, ­München 2002, S. 35
  11. vgl. Pongratz, L.A., Konstruktivistische Pädagogik als Zauberkunststück, in: Pongratz, L.A./Nieke, W./Masschelin, J., Kritik als Pädagogik   – Pädagogik als Kritik. Opladen 2004
  12. vgl. Pongratz, L.A., Plastikwörter. Notizen zur ­Bildungsreform, in: Engagement 3/2007, S. 161  –170
  13. vgl. Deutsches Pisa-Konsortium (Hrsg.) 2001, S. 16 Nr. 14/15 vom 6.4.2009

Quelle:
www.zeit-fragen.ch

© 2009, Genossenschaft Zeit-Fragen

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