Über den Nihilismus

(Red.) Trotz – oder besser gesagt: gerade wegen – der derzeitigen turbulenten Diskussionen über „Wokism“, „Diversity“, „Inklusion“ und andere Aspekte der dekadenten, ultra-liberalistischen Ideologien, ist der vorliegende Aufsatz von 1951 (!) von Friedrich Liebling – alias Polybios – brandaktuell. Manchen (u.a. Alexander Dugin) erscheinen die vorgenannten Auswüchse zwingende Folgen der Bestrebung des Menschen zu mehr liberalistischer „Freiheit“ in Abkehr von traditionellen, mythologischen Werten zu sein.
Friedrich Liebling geht davon aus, dass diesem traditionellen, religiösen und mythologischen Weltbild, das für Jahrhunderte von massgeblicher Bedeutung blieb, in der modernen Wissenschaft ein entschiedener Gegner erwächst, der die Fundamente der religiösen Weltinterpretation durch sachliche Analyse der Naturvorgänge (einschliesslich der Natur des Menschen selbst) auflöst. Dem Weltall ein Streben nach Ordnung oder Sinnverwirklichung zuzuschreiben, heisst es personifizieren, und zwar nach dem Muster des Menschen, der sich und seine Lebensgesetzlichkeit in den Kosmos projiziert. Jeglicher Anthropomorphismus ist aber eine Illusion; was für den Menschen gilt, gilt nicht für die Welt und umgekehrt.
Indem der Mensch sich von dieser Illusion verabschiedet, die Herrschaft über die Natur übernimmt und dabei die Einsicht in die Grundtatsachen des sozialen Lebens berücksichtigt (was notabene auch die eigene Biologie einschiesst), kann er eine gesunde Zukunft schaffen. Zurück in die mythologische, krankhafte Vergangenheit ist keine Option. (am)
Seit einigen Jahrzehnten spricht man davon, daß Europa, und damit die ganze Welt, vom Gespenst des Nihilismus bedroht sei. Von den verschiedensten Seiten her wird zur Abwehr gegen diese Bedrohung aufgerufen, ohne daß allgemeine Klarheit darüber bestünde, was man eigentlich unter Nihilismus zu verstehen habe. Die «Heraufkunft des europäischen Nihilismus», die Nietzsche als einer der ersten mit eindrücklichen Worten angekündigt hatte, läßt sich nur begreifen aus philosophischen und kulturgeschichtlichen Erwägungen, die anzustellen heute notwendiger denn je erscheint; ist doch das Nihilismusproblem längst zu einer Grundfrage des heutigen Menschen geworden. Inmitten der endlosen Diskussionen über Herkunft, Ursache und Überwindung des Nihilismus scheint es für jeden verantwortungsbewußten Einzelnen unumgänglich, in diesen Fragen eine prinzipielle Abklärung anzustreben.
Interpretation der Welt und des menschlichen Lebens
Der Nihilismus ist eine Interpretation der Welt und des menschlichen Lebens. Als solche gehört er zu den möglichen Interpretationen von Sinn und Wert der Wirklichkeit, die uns durch Philosophie, Wissenschaft und Religion nahegelegt werden. Zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, kann der Mensch nicht umhin, eine Gesamtbewertung seines Lebens und der Welt überhaupt durchzuführen.
Optimismus: Diese Welt ist «die beste aller möglichen Welten»
Dabei besteht die Möglichkeit, die Welt als Ganzes gutzuheißen und für sie das Vorherrschen eines guten Prinzips und einer höheren Sinnhaftigkeit zu postulieren. Unter dieser Voraussetzung entsteht eine Art von Optimismus, für den ausgemacht ist, daß das Gute in der Welt über das Böse triumphiert und sich überall und immer Ordnung und Sinn gegenüber Chaos und Zufall durchzusetzen vermögen. Diese Art von Weltanschauung hat ihre bedeutendste Ausgestaltung gefunden in der «Theodizee» von Leibniz, worin bewiesen wird, daß diese Welt «die beste aller möglichen Welten» ist. Die Verteidigung Gottes als des Schöpfers dieser Welt geht bei Leibniz so weit, daß sogar alles Übel in metaphysischer Argumentation gerechtfertigt wird. Weil wir Menschen nur einen beschränkten Gesichtskreis haben, verabsolutieren wir ein Leiden oder einen Schmerz, ohne zu erkennen, daß Gott — wie Leibniz glaubt — auch damit unser Bestes will. Alles ist gut in dieser Welt der «prästabilierten Harmonie»; Gott als «Welteningenieur» hat seine Sache so vortrefflich gemacht, daß die einzig wesentliche Weltanschauung nur der Optimismus sein kann. — Begreiflicherweise blieb diese Lehre nicht unangefochten.
Den Auftakt zu kritischen Auslassungen über die Theodizee bildete Voltaires «Candide», der mit der unerbittlichen Logik der Satire den wahren Weltlauf neben den spekulativen der Theodizee stellt. Der junge Candide glaubt den Lehrsätzen seines Lehrers, daß «alles hienieden aufs vortrefflichste eingerichtet sei», und schafft sich ein entsprechendes Weltbild: «Die Nasen sind dazu da, daß man darauf Brillen trägt... Offensichtlich sind die Beine dazu geschaffen, daß man Strümpfe und Schuhe und Hosen daran trägt, und somit haben wir Schuhe, Strümpfe und Hosen an. Die Steine sind gewachsen, auf daß man sie behauen und daraus Schlösser erbauen kann, und deswegen hat der gnädige Herr ein wunderschönes Schloß.» Mit dieser Weltanschauung zieht Candide durch das Leben, und erst ein Übermaß von Unglück und Nachstellungen aller Art belehrt ihn, daß die Welt nicht gerade vollkommen eingerichtet ist. Die Konsequenz, die er aus seinen Erfahrungen zieht, ist realistisch genug; er antwortet dem philosophierenden Pangloß, der ihm den «höheren Sinn» all seiner Leiden beweisen will: «Wohl gesprochen, nun aber müssen wir unsern Garten bestellen.»
Pessimismus: Die Welt ist denkbar schlecht eingerichtet
Der Optimismus, ebenso alt wie die Menschheit selbst, hat von jeher in der pessimistischen Weltdeutung seinen Gegenspieler gefunden. Entgegen der Lehre von der sinnhaften Weltordnung und dem Wert des menschlichen Lebens behauptet der Pessimismus, daß die Welt denkbar schlecht eingerichtet sei. Die Welt ist chaotisch und sinnlos; das Schlechte siegt fortwährend über das Gute, die Gewalt über das Recht, der Haß über die Liebe usw. — Schon die Griechen kannten den resignierten Satz: «Nicht geboren werden ist das Beste.» Die Summe der Leiden in unserem Leben überwiegt bei weitem die Summe unseres Glücks, und alle Lust ist an sich nichts Positives, sondern lediglich die kurzfristige Abwesenheit von Unlust.
Was der Mensch Glück nennt, sind nur jene spärlichen Augenblicke, wo sich der allzeit harte Zugriff des Unglücks lockert und das Unheil sich sammelt, um sich aufs neue auf uns zu stürzen. Diese Perspektive, in der sich das Dasein in den düstersten Akzenten zeigt, hat zu allen Zeiten auf einen bestimmten Typus Mensch eine starke Anziehungskraft ausgeübt. In der indischen Religion und Philosophie finden sich zahlreiche pessimistische Äußerungen; bei den griechischen Stoikern ist der Pessimismus, gelegentlich mit heroischen Überwindungsversuchen verknüpft, eindrücklich vertreten.
So zum Beispiel in Marc Aurels «Selbstbetrachtungen»: «Des Menschen Leben ein Augenblick, sein Wesen ewiger Fluß, die Sinne trübe und der Leib ein Raub der Fäulnis. Die Seele unfaßbar, das Geschick ein Rätsel und der Nachruhm ungewiß. Was des Körpers, gleicht fließendem Wasser, was der Seele, einem Traum und Rauch. Das Leben ist ein Kampf und eines Wanderers Halt in der Fremde, und unser Ende ist Vergessensein.» In der stoischen Haltung bekundet sich ein Pessimismus, der sich tapfer in die Gegebenheiten dieses trostlosen Diesseits zu finden sucht. Das irdische Leben wird trotz seiner Härte und Hoffnungslosigkeit bejaht, und der Pessimismus verbindet sich noch nicht mit einer Lehre, die das eigentliche Leben des Menschen in eine Über- oder Hinterwelt verlegt.
Das Christentum verbindet optimistische und pessimistische Elemente
Dies geschieht erst durch das Christentum, in dem sich in eigentümlicher Weise optimistische und pessimistische Elemente gegenseitig durchdrungen haben. In der Auffassung von der Sündhaftigkeit dieser Welt, dem menschlichen Verfallensein an das «Fleisch» und damit die Sünde erweist sich das Christentum als pessimistisch, während seine Hoffnung auf Erlösung, Gnade und das «Reich Gottes» als optimistisch zu gelten hat. Daß auch nihilistische Komponenten im Christentum anzutreffen seien, wie etwa Nietzsche postuliert, ist eine Frage, die uns noch weiter hinten beschäftigen soll.
Der Pessimismus des 19. Jahrhunderts
In der Neuzeit hat der Pessimismus vor allem im 19. Jahrhundert eine starke Gefolgschaft gefunden. Die ausgehende romantische Epoche zeigt eine eigentümliche Krankheitserscheinung dichterischer Art, den sogenannten «Weltschmerz» (das Wort ist von Jean Paul geprägt worden), in dem zerrissene Menschen ihr subjektives Mißvergnügen über ihr zweckloses Leben in die Welt hineinprojizieren. Chateaubriand, Lord Byron, Lenau, Heine und andere legen in ihre Werke ihr Leiden an der Welt und erreichen so eine schmerzlich-düstere Gestaltungskraft, der man eine gewisse Eindrücklichkeit nicht absprechen kann.
In philosophischer Hinsicht wird der Pessimismus gelehrt von Giacomo Leopardi (Theorie des schönen Wahns), Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann. Von Schopenhauer ist zu sagen, daß er den Pessimismus in Europa populär gemacht hat und sozusagen der Erzvater der modernen Pessimisten ist. In der Lehre vom «Willen zum Leben» erklärt Schopenhauer, daß der Weltgrund und das Wesen der Wirklichkeit durchaus unvernünftig seien, ein «blinder Drang», dem es bloß um das «Leben» geht. Niemals kann dieser rastlose Wille zur Ruhe kommen; von Genuß zu Begierde eilend, schafft dieser «Wille» eine Welt des Elends und des Leidens. Jedes Menschenleben fließt zwischen Wollen und Erreichen fort. Wollen aber ist Schmerz, ist Unlust des Noch-nicht-befriedigt-Seins. Primär besteht immer das Gefühl der Unlust, das nur für jene Momente aufgehoben ist, in denen der Wille an einem seiner Ziele angekommen ist. Nichtsdestoweniger ist es völlig begründet, in die Klage auszubrechen, das beste sei, nie geboren zu sein. Mit den Worten eines modernen Dichters, der diesen Standpunkt karikiert: «Wer nicht zur Welt kommt, hat nicht viel verloren / Er sitzt im All auf einem Baum und lacht»…
Nihilismus zwischen Optimismus und Pessimismus
Zwischen den Positionen des Optimismus und des Pessimismus erhebt sich diejenige des Nihilismus. Schon ein sprachlicher Hinweis vermag deutlich zu machen, wo die Verschiedenheit der weltanschaulichen Gesichtspunkte einsetzt. Alle drei Wörter stammen aus dem Lateinischen; bedeutet optimus = am besten und pessimus = am schlechtesten, so will das Wort nihil besagen: nichts oder das Nichts. Der Nihilismus sieht in der Welt weder etwas Schlechtes noch etwas Gutes — sie ist im wahren Sinne des Wortes «nichtig», sinnlos, ohne Wert, Ordnung und Gestaltung.
Die Konsequenz, die daraus gezogen werden soll, ist — so beim Buddhismus —, daß man den «Schleier der Maya» zerreißt, das Rad der «Wiedergeburten» zum Stehen bringt und also in das «Nirwana», das Nichts, eingeht. Es leuchtet ein, daß der Nihilismus eine große Verwandtschaft mit der pessimistischen Weltanschauung besitzt und daß zumeist beide Standpunkte gemeinsam auftreten.
Von der negativen Bewertung der Gesamtwirklichkeit ist nur ein Schritt zur Behauptung, daß «alles eitel sei». Dies wird veranschaulicht im Motto zum «Rosengarten» des persischen Dichters Saadi (13. Jahrh. n. Chr.), das Schopenhauer in seinen «Aphorismen zur Lebensweisheit» folgendermaßen wiedergibt:
Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
Sei nicht in Leid darüber, es ist nichts;
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen;
Geh an der Welt vorüber, es ist nichts.
Die mannigfaltigen Erfahrungen der Nichtigkeit der Welt und des menschlichen Lebens veranlassen den Nihilisten, ein «vernichtendes» Gesamturteil über Welt und Wirklichkeit auszusprechen. Dabei ist es nur dann korrekt, von Nihilismus zu reden, wenn jegliche Sinn- und Werthaftigkeit innerhalb der Welt geleugnet wird. Wann immer Sinn und Wert noch in irgendeiner Form anerkannt werden, handelt es sich nicht um Nihilismus.
Heilloser Mißbrauch mit dem Verdikt des «Nihilismus»
Hält man sich dies mit aller Klarheit vor Augen, so erkennt man, daß es eigentliche und echte Nihilisten mit Ausnahme einiger Spielarten des Buddhismus gar nicht gibt und vielleicht auch gar nicht geben kann. Was gemeinhin im abschätzigen Sinne mit dem Ausdruck «Nihilismus» belegt wird, ist in der Regel nicht nihilistisch. Geht man dem Wortgebrauch nach, so zeigt sich, daß die Warnrufe vor dem «anbrechenden Nihilismus» gewöhnlich von den Vertretern der überlieferten Ordnungen und Institutionen stammen, die in jeder freiheitlichen und revolutionären Strömung sogleich den «Nihilismus» diagnostizieren.
So wird von kirchlichen Kreisen jeder religionsfreie Standpunkt immer wieder als «nihilistisch» bezeichnet; der Atheist ist dann zugleich auch ein Nihilist, der, weil er Gott nicht verehrt, das Nichts verehren muß. Den herrschenden Klassen in Staat und Gesellschaft erscheint jede Auflehnung gegen die Tradition, selbst wenn es sich um eine Tradition der Unterdrückung handelt, als «nihilistisch»; der Sozialist ist dann zugleich auch ein Nihilist, der, weil er den gegenwärtigen Staat verneint, die gesellschaftliche Ordnung überhaupt in Frage stellt.
Indem sie ihre «Wahrheit» und ihre «Wirklichkeit» absolut setzen, wird ihnen alles zum Nihilismus, was diese «Wahrheit» bezweifelt und was diese «Wirklichkeit» verändern will. Auf Grund dieser Sachlage wird ein heilloser Mißbrauch getrieben mit dem Verdikt des «Nihilismus», der eine klare Problemstellung nahezu unmöglich macht. Darum wird es in diesem Zusammenhang nötig sein, alle den Nihilismus betreffenden Fragenkomplexe ans Licht zu heben und sie — gemäß ihrer systematischen Aufeinanderfolge — in knappen Umrissen darzustellen.
Dabei erheben sich etwa folgende Fragen:
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Hat die Welt als Ganzes Ordnung, Wert und Sinn?
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Gibt es einen «Sinn» des menschlichen Lebens?
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Wo stehen wir heute in Welt und Wissenschaft in bezug auf die Gesamtbewertung unseres Daseins?
Hat die Welt als Ganzes Ordnung, Wert und Sinn?
Vor allem die großen monotheistischen Religionen waren es, die für die Welt Ordnung, Wert und Sinn beanspruchten. Schon bei den Griechen taucht der Gedanke eines Welt-Logos, einer allgemeinen Weltvernunft auf, die das ursprüngliche Chaos zu einem lichtvollen Kosmos gestaltet hat. Gott als Schöpfer der Welt verbürgte für den Gläubigen die Geordnetheit des Weltlaufes; Welt- und Menschheitsgeschichte spiegeln eine göttliche Führung, nach der «am Ende der Zeiten» sich alles zum Guten wenden muß. Gott hat die Welt so eingerichtet, daß jedes Ding an seinem Platze ist und daß der Mensch, die Krone der Schöpfung, ein geordnetes Weltgebäude vorfindet.
Allerdings fehlt auch hier der negativistische Gegenspieler nicht. Gegen die göttliche Weltordnung lehnt sich der Teufel auf, der Repräsentant des Chaos, der Auflösung und der Verneinung. So erhält der Weltlauf eine dialektische Spannung, die durch den Gegensatz positiver und negativer Kräfte hervorgerufen wird.
Da aber Gottes Übermacht unantastbar scheint, erweist sich die Welt als Ganzes von Sinn und Wert durchdrungen, und der Mensch selber empfängt seinen Eigenwert aus der Bezugnahme auf das Absolute, wodurch sein Leben in den höheren Sinn einbezogen wird.
Diesem religiösen und zum Teil mythologischen Weltbild, das für Jahrhunderte von maßgeblicher Bedeutung blieb, erwächst in der modernen Wissenschaft ein entschiedener Gegner, der die Fundamente der religiösen Weltinterpretationen durch sachliche Analyse der Naturvorgänge auflöst. Alle Vorgänge in der unbelebten Natur folgen dem Gesetz der Kausalität; jede Wirkung beruht auf einer Ursache und wird auch durch sie bedingt. Das ganze Weltgeschehen ist eine unendliche Verkettung von Ursache und Wirkung, wobei nicht abzusehen ist, wie eine solche Abfolge von Kausalitäten eine Sinnhaftigkeit beinhalten könnte.
Die Ereignisse in der unbelebten Natur laufen ab als pure Notwendigkeit, in einer blinden Kausalität, die eine Ausrichtung auf Ziel, Sinn oder Wert unmöglich macht. Dem Weltall ein Streben nach Ordnung oder Sinnverwirklichung zuzuschreiben, heißt es personifizieren, und zwar nach dem Muster des Menschen, der sich und seine Lebensgesetzlichkeit in den Kosmos projiziert. Jeglicher Anthropomorphismus ist aber eine Illusion; was für den Menschen gilt, gilt nicht für die Welt und umgekehrt.
Die moderne Naturwissenschaft hat die Teleologie ausgeschaltet, die Auffassung nämlich, daß die Naturvorgänge auf Zwecke ausgerichtet seien. Die Natur ist nicht «zweckmäßig» eingerichtet. Ihre scheinbare Harmonie ist nur ein zufälliger Zustand, in dem sich die Kräfte für eine ungewisse Zeit die Waage halten; dieses Gleichgewicht wird aber immer wieder in Frage gestellt, und es braucht wenig Mühe, die Labilität dieses Zustandes aufzuweisen.
Diesen Standpunkt der modernen Wissenschaft kann man nicht anders als «realistisch» bezeichnen, wenn man ihn dem mythologischen und religiösen gegenüberstellt, die sich schließlich nur auf einen unbegründbaren Glauben berufen können. Nun wird gewöhnlich von religiöser Seite behauptet, daß die kausale Betrachtung der Natur ein Stück «Nihilismus» bedeute. Der Mensch sei in einen sinnlosen Weltlauf eingeschaltet; es gebe für ihn keine höhere Ordnung mehr, und aus einem sinnvoll zusammengefügten Weltgebäude werde eine chaotische Ereigniskette, die der zwecklosen Fatalität von Ursache und Wirkung folgt.
Trotz der Richtigkeit dieser Feststellung scheint es völlig ungerechtfertigt, hier von Nihilismus zu reden. Der Glaube, daß der Weltlauf gelenkt und geordnet sei, ist eine Wünschbarkeit und keine Realität. In der Unsicherheit gegenüber den Naturgewalten hat sich der Mensch die Vorstellung geschaffen, daß ein übermenschliches Wesen die Welt «in seinen Händen» halte und somit als «Vorsehung» über den menschlichen Schicksalen zu wachen vermöge. Aus dieser illusionären Vorstellung gewann der Mensch eine Art von Sicherheitsgefühl, das aber im Grunde nichts zur faktischen Sicherung des Menschen beitrug. Die trostvolle Idee eines Weltenlenkers, der «keinen Sperling vom Dache fallen läßt» und auch «die Haare auf jedes Menschen Haupt gezählt» hat, hinderte nicht die Kausalität des Naturgeschehens, seinen Verlauf zu nehmen. Die moderne Wissenschaft nimmt nun die uralte Illusion zurück, und es hat nichts mit «Nihilismus» zu tun, wenn man die schonungslose Realität des Weltenlaufes zur Kenntnis nimmt, ohne sie in Wünschbarkeiten umzudeuten.
Der Bereich des Lebendigen bot stärkeren Anlaß, eine zweckhafte Einrichtung der Natur zu postulieren. Daß das Weltall eine wohlkonstruierte «Uhr» sei, die auf einen überweltlichen «Uhrmacher» — das heißt Gott — verweise (physiko-teleologischer Gottesbeweis), kann heute nur noch ein Mensch behaupten, der in der vorkantischen Ära des abendländischen Denkens steckengeblieben ist. Im Organischen aber ist die allgemeine Zweckmäßigkeit derart offensichtlich, daß der Gedanke naheliegt, diese vollkommenen Einrichtungen auf einen göttlichen Urheber zurückzuführen, der die sinn- und zweckhaften Zusammenhänge im Organischen bewirkt habe. Auch hier aber wird der Fehler gemacht, den momentanen Zustand der Angepaßtheit und Harmonie als dauernden Zustand aufzufassen.
Die Anpassung des Organischen an seine Umwelt ist ein Prozeß, der Jahrmillionen gedauert hat und sich immer wieder als fragwürdig erweist. Eine genauere Betrachtung zeigt, daß der größte Teil der lebendigen Substanz durch mangelhafte Anpassungsversuche zerstört wird. Leben, eine uns heute noch unerklärliche Funktion der Materie, heißt Anpassung. Diese Anpassung wird in einer unendlichen Zahl von Versuchen erstrebt, gelingt aber stets nur in wenigen Fällen. Die Zahl der ausgestorbenen Tierarten ist ein Vielfaches der Arten, die wir heute in einer relativen Einordnung in die Umwelt vor uns sehen.
Betrachtet man den inneren Aufbau der Organismen, so findet man zahllose Unzweckmäßigkeiten, die sich nur als falsche, aber doch noch lebenstaugliche Konstruktionen im Dienste der Selbsterhaltung begreifen lassen. «Versuch und Irrtum» ist das Prinzip, mittels dessen das Lebendige sich in seine Umwelt einfügt. Die gegenwärtige Angepaßtheit mag erklärt werden durch Training lebensnotwendiger Organe (Lamarck), Kampf ums Dasein und geschlechtliche Zuchtwahl, mit der Konsequenz des Überlebens des Tüchtigsten (Darwin) oder Mutationen (de Vries) — auf jeden Fall aber ist die Zweckmäßigkeit im Bereich des Organischen nicht die Folge einer einmaligen «Konstruktion» durch überweltliche Mächte; die sinnvolle Geordnetheit des Lebendigen ist das Ergebnis eines Strebens, das mit der Eigenschaft «lebendig» identisch ist, und somit gehört der «Sinn» in das Lebendige selbst hinein und wird ihm nicht «von außen her» auferlegt.
Auch hier handelt es sich nicht um «Nihilismus», wenn diese Tatsache zur Kenntnis genommen wird; das Weltall wird deswegen nicht «sinnentleert» — der «Sinn» und die Ordnung, die frühere Epochen von außen her dem Lebendigen aufoktroyiert sahen, muß in das Lebendige selber zurückgenommen werden. Dasselbe gilt auch für den Menschen, der selber nur ein Glied in der Entwicklung des Lebens auf der Erde ist. Wenn es einen Sinn des menschlichen Lebens gibt, so darf dieser nicht außerhalb des Lebens gesucht werden, sondern muß sich aus den Bedingungen und Voraussetzungen des Menschseins ergeben.
Gibt es einen «Sinn» des menschlichen Lebens?
Wenn das Weltall eine zwecklose Abfolge von Ursache und Wirkung darstellt und auch das Leben selbst keinen «höheren Sinn» hat, so muß man sich fragen, wie es um das höchstentwickelte Leben — das menschliche nämlich — in bezug auf die Sinnhaftigkeit steht. Jeder zum Bewußtsein seiner selbst erwachte Mensch muß sich die Frage stellen, wozu er da ist und was den Sinn seines Lebens ausmachen soll. Nun muß man hier fast mit J. G. Fichte sagen: «Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.» Sieht man von dem Gedanken ab, daß ein Gott jeden Einzelnen mit einer bestimmten Aufgabe in die Welt sendet oder, in Hegels phantastischer Spekulation, daß der Weltgeist zu seiner Bewußtwerdung Menschen und Völker mit der «List der Idee» wie Marionetten gebraucht, so scheint es vorerst, daß es einen Sinn für das menschliche Leben schlechthin nicht geben kann.
Die erste Feststellung, die man zu treffen hat, ist die der Zufälligkeit in der Existenz jedes Einzelnen. Warum bin ich gerade in diesem Jahrhundert geboren? Warum gerade an diesem oder jenem Ort? Warum in dieser oder jener Gesellschaftsklasse? Auf alle diese Fragen kann es keine Antwort geben. Bevor wir noch zu einer selbstverantwortlichen Lebensführung gelangen, hat die Zufälligkeit unseres Daseins bereits über die Vorbedingungen unseres Lebens entschieden. Das Hier und Jetzt unseres Lebens entbehren vorerst jeglichen Sinnes; es ist eine nackte Tatsächlichkeit, ohne Sinn, Grund oder Zweck.
Aber gerade in der Zufälligkeit seiner geschichtlichen, sozialen und menschlichen Situation ist es dem Menschen möglich, seinem Leben einen Sinn zu verleihen. Dieser Sinn kommt nicht von außen in das Leben hinein — er muß selbst gewählt werden. Indem der Mensch sich eine Aufgabe, ein Ziel seines Strebens wählt, erhält sein Leben einen Sinn, auf den es ausgerichtet werden kann. Diese Wahl kann konkret sein: Mitarbeit in der Gemeinschaft, Beitrag zur Evolution der Kultur, Förderung der Mitmenschlichkeit usw. In allem jedoch, was der Mensch faktisch wählt, wählt er immer auch sich selber im Hinblick auf einen Sinn seines Lebens.
Damit bringt der Mensch so etwas wie «Sinn» in die Welt, und wir haben Grund genug, einzig in dieser Selbstwahl eine mögliche Sinnhaftigkeit im Weltlauf anzunehmen. In der Tätigkeit des bewußten Zweckesetzens, in der verantwortlichen Übernahme einer Lebensaufgabe im Rahmen der mitmenschlichen Gesellschaft besteht das Sinngefüge, das der Mensch zu realisieren vermag.
Die Wahrheit seines Lebens muß von jedem Einzelnen selbst gefunden werden. Die Werte, auf die wir unser Leben ausrichten wollen, müssen wir selbst ergreifen, schaffen und manchmal auch erst «erfinden». Es ist höchst problematisch, allgemeinverbindliche Wahrheiten und Werte postulieren zu wollen. Die Kritik der «Ideologen» hat gezeigt, daß das, was man gewöhnlich als «ewige Wahrheiten» anpreist, durchaus «standortbedingt» ist. Angefangen bei der Idolenlehre von Francis Bacon, über die Analyse der «Vorurteile» bei Helvetius und Holbach, bis zur biologisch-soziologischen Wert- und Wahrheitskritik bei Schopenhauer, Marx, Nietzsche usw., haben die Ideologen klarzumachen gewußt, daß hinter den sogenannten ewigen Wahrheiten immer wieder ein politisches, soziales, machtmäßiges oder vitales Interesse angetroffen wird.
Die Lehre, die daraus zu ziehen ist, ist zumindest ein gemäßigter Skeptizismus, der mit Montaigne sagt: «Wahrheit diesseits, Irrtum jenseits der Pyrenäen.»
Die Auflösung der allgemeinverbindlichen Wahrheiten und Werte führt uns auf denjenigen zurück, der diese Werte «gesetzt» und geschaffen hat, nämlich den Menschen. Der Mensch ist es, der in gewissen sozialen, biologischen und historischen Bedingungen Werte schafft und durch diese Werte seinem Leben einen «Sinn» zu geben versucht. Der Prozeß der Wert- und Wahrheitsschöpfung ist niemals abgeschlossen; er muß ständig weitergeführt werden, da sich mit der Geburt jedes Einzelnen die Aufgabe erneut stellt, einen tragfähigen Sinn für ein individuelles Leben zu finden.
Wenn es auch unmöglich ist, diesen Sinn, für den jeder Einzelne selbst verantwortlich ist, in seiner jeweiligen Einmaligkeit zu konkretisieren, so kann doch ein allgemeines Gesetz über den Wert einer möglichen Selbstwahl formuliert werden. Der Sinn, den einer seinem Leben gibt, erhält letzten Endes seinen Wert daraus, daß er für die mitmenschliche Gemeinschaft «wertvoll» ist. Was im Rahmen des bloß «Individuellen» verbleibt und nicht der Allgemeinheit zu Nutzen kommt, ist im höheren Sinne «wertlos». Der Prozeß der Kultur scheidet es aus, weil er für es keine Verwendung hat. Somit sind wir bei der Sinnfindung unseres Lebens immer auf die Gemeinschaft verwiesen, wobei gilt, daß alle Sinnhaftigkeit im menschlichen Leben in Mit-Arbeit und Mit-Streben, das heißt in der Mitmenschlichkeit begründet ist. Wer sich selber derart wählt, daß seine Wahl sich nicht in den Strom der aufwärtssteigenden Kultur einfügt, realisiert keinen «Wert», denn jeglicher Wert ist immer auch ein sozialer und kultureller.
Wo stehen wir heute in Welt und Wissenschaft in bezug auf die Gesamtbewertung unseres Daseins?
Die Tafel der Werte, die sich lediglich auf das Diesseits und das menschliche Leben beschränkt und vollständig «innerweltlich» bleibt, wird oft als «nihilistisch» charakterisiert. Der Mensch, der seinem Leben selber einen Sinn geben will, wird maßlos genannt, und es wird behauptet, daß der auf sich selbst gestellte Mensch mit eiserner Konsequenz dem Nihilismus in die Arme läuft. Sieht man näher zu, so erweist sich auch diese «Ankündigung des Nihilismus» als unbegründet.
Es ist durch nichts zu erweisen, daß der Mensch den Sinn seines Lebens aus dem Jenseits, der Über- oder Hinterwelt beziehen müsse. Die Gründe, die dafür namhaft gemacht werden, daß der Sinn des menschlichen Lebens «außerhalb» dieses Lebens selber zu suchen sei, erwachsen immer aus der Atmosphäre eines bloßen Glaubens, eines Fürwahrhaltens, das sich schließlich immer auf das dumpfe Gefühl «einer schlechthinnigen Abhängigkeit» (Schleiermacher) zurückzieht. Die moderne Philosophie seit Ludwig Feuerbach ist bemüht, dieses Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit in seiner psychologischen Bedingtheit aufzuzeigen und es gerade durch das psychologisch-anthropologische Verständnis aufzulösen.
Nur in primitiven Entwicklungsstadien und Bewußtseinsformen entwickelt sich jenes Hinausgreifen über die wahre Welt und Wirklichkeit, die in allen Spielarten des mythologischen Bewußtseins angetroffen wird. Aber indem der Mensch den Boden der Wirklichkeit verläßt, begibt er sich in den Bereich des «Nichts», und als Nihilismus im eigentlichen Sinne des Wortes dürften nur Weltanschauungen bezeichnet werden, die den Menschen von der Wirklichkeit entfremden, ihn zur Verneinung dieser Wirklichkeit aufrufen.
So gesehen, erscheint der Nihilismus als eine Grundtatsache des abendländischen Geisteslebens, ein Faktum, das sich keineswegs auf unsere Gegenwart beschränkt, sondern in der europäischen Geistesgeschichte eine mannigfaltige Ausgestaltung erfahren hat. Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens besteht darin, daß wir Menschen auf dieser Erde unser Leben sichern und erhalten müssen. Der Kampf des Menschen zielt darauf hin, die Erde wohnlich zu machen und mittels der Kultur die Idee der Menschlichkeit zu realisieren.
Im Hinblick auf diese Aufgabe können Menschheitsbewegungen ebenso wie das Leben einzelner Individuen bewertet werden. Es ist kein Sonderfall in der Kulturgeschichte, daß, anstatt daß die Aufgaben des Menschseins übernommen werden, gelehrt wird, das Leben sei wertlos: besser Nichtsein als Sein. Hinter solchen Lehren steckt die Schwäche, das Nicht-ertragen-Können der Bedingungen, die mit dem menschlichen Leben unausweichlich verknüpft sind. Das schwache und kranke Leben strebt immer über die Wirklichkeit hinaus und sucht in der Illusion einen Standpunkt zu finden, von dem aus «die Welt aus den Angeln gehoben werden kann». Die religiöse Weltanschauung hat hier ihre Wurzeln, und die Weltordnung, die durch sie postuliert wurde, war ein künstliches Gefühl von Werten, das sich nicht auf dem Boden der Realität errichtete.
Dieses Wertgefüge hat dem Aufstieg der Wissenschaften und der wachsenden sozialen Befreiung des Menschen nicht standgehalten. Die Herrschaft über die Natur und die Einsicht in die Grundtatsachen des sozialen Lebens ist an Stelle der religiösen Weltschau getreten. So hat sich als Resultat der Entwicklung ergeben, daß die Ausrichtung auf göttliche Instanzen mehr und mehr abgebaut wurde und man von unserer Epoche mit Recht sagen kann, daß «Gott tot sei». Hierbei handelt es sich nicht so sehr um die Frage, ob Gott existiert oder nicht existiert; Nietzsche, der dieses Wort vom Tod Gottes geprägt hat, wollte damit vor allem darauf hinweisen, daß das Leben des modernen Menschen so gestaltet ist, daß ein Gott darin gar keinen Raum mehr finden kann.
Die ganze Hierarchie der Werte, die für das Abendland während zweier Jahrtausende Maß und Richtung bedeutete, ist aber damit hinfällig geworden. Es sind Werte aus der Welt geschwunden, an denen sich die Kultur orientierte und die dem menschlichen Leben als Leitsterne vor Augen standen. In dieser kulturphilosophischen Perspektive erscheint unsere Epoche als eine Übergangszeit, in der die alten Ideale abgewertet und neue Ideale noch nicht fixiert sind. Auf jeden Fall steht fest, daß der Weg zurück für die Menschheit nicht gangbar ist. Die Ergebnisse eines zweitausendjährigen Befreiungskampfes in Philosophie, Wissenschaft, Technik und Sozialleben sind nicht rückgängig zu machen. Der Sinn des Lebens kann nicht mehr in einer Über-Welt gesucht werden. Der Mensch der Neuzeit ist auf der Suche nach Idealen, die sein Leben im Diesseits, in der wirklichen und wahren Welt möglich machen. Das Gespenst des Nihilismus taucht dort auf, wo neue Werte noch nicht sichtbar geworden sind.
Es hat wenig Sinn, diese notwendige Phase der abendländischen Entwicklung, die natürlich auch Menschheitscharakter hat, zu verneinen. Jede echte Schwierigkeit wird nur überwunden, wenn man sie als Schwierigkeit akzeptiert. Das Positive in der Auflösung der alten Werte liegt darin, daß der Platz frei wird, innerhalb dessen eine neue Wertetafel errichtet werden kann. Uns will scheinen, daß die neuen Werte bereits gefunden sind. In der Bejahung des Diesseits, der faktischen Bedingungen und Voraussetzungen des menschlichen Lebens liegt die einzige Möglichkeit, einen eigentlichen und ursprünglichen Sinn des Daseins zu finden.
Die Behauptung, daß das menschliche Leben keinen Sinn habe, spricht nicht so sehr über das menschliche Leben als über den, der diese Aussage macht. Das Leben «hat» nicht einen Sinn; der Sinn muß ihm «gegeben» werden. Schiller formuliert das so: «Wisset, ein erhabener Geist legt das Große in das Leben, und er sucht es nicht darin.» Mit andern Worten: Das Nichts, das sich vor dem Menschen auftut, wenn er auf die Sinnhaftigkeit des Lebens vom Überweltlichen her Verzicht leistet, muß dazu führen, daß der Sinn des Lebens vom Menschen selber gestiftet und geschaffen wird.
Der «Abgrund des Nihilismus», an dem wir heute nach der Auffassung zahlreicher kulturphilosophischer Diagnostiker stehen, bedeutet nichts anderes, als daß der Mensch den Weg zu sich selbst und seiner Freiheit gefunden hat. Der Gebrauch dieser Freiheit muß dazu führen, das «Reich des Menschen» auf der Erde zu verwirklichen, das heißt, eine Ordnung zu schaffen, in der der Mensch ein «menschenwürdiges» Leben führen kann. Denn wenn die überirdischen Werte und Hoffnungen wegfallen, dann bleiben nur noch die irdischen übrig, deren Nichtrealisierung immer zugleich auch die «Sinnlosigkeit» des menschlichen Daseins bedeutet. Haben wir nichts anderes mehr als irdische Werte, dann können wir nicht umhin, deren Verwirklichung mit dem ganzen Einsatz unserer Persönlichkeit anzustreben. Vielleicht ist gerade dies der positive Sinn der Krise, die man gemeinhin mit dem Schlagwort «Nihilismus» bezeichnet und die, wie wir zu zeigen bemüht waren, weit eher eine Sache der abendländischen Vergangenheit als der Gegenwart ist — eine Krise, die aus einer krankhaften Vergangenheit in eine gesunde Zukunft hinüberführt.