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Von Wolfgang Gleich - Auszug aus dem Buch "Soziale Psychologie" - Topia Verlag 1979
27. August 2024

Die Natur des Menschen


Auszug aus dem Buch "Soziale Psychologie"

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Auszug aus dem Buch "Soziale Psychologie"

Unsere Welt ist gekennzeichnet von Kriegen, Ausbeutung, Elend, Hunger und Folter. Liegen die Ursachen dafür in der Bösartigkeit des Menschen? Oder sind es andere Gründe, welche ein Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit verunmöglichen?

Die Autoren des vorliegenden Sammelbandes versuchen, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, indem sie die Natur des Menschen beschreiben.

Der Mensch wird als Ergebnis der natürlichen Evolution verstanden und deshalb mit naturwissenschaftlichen Methoden, ohne jegliche irrationale und mystische Überlegungen untersucht. Entscheidend für den Menschen sind seine soziale Natur und seine Lernfähigkeit. Da diese Faktoren durch eine unsachgemässe Erziehung, eine ungerechte Gesellschaftsordnung und eine vom mystischen Denken beeinflusste Kultur eingeschränkt und verunstaltet werden, ist unsere Welt in einem Zustand, der nicht als human bezeichnet werden kann.

Wie alle anderen Lebewesen ist auch der Mensch ein Produkt der Natur. Die Eigenschaften und Bedürfnisse, die dem Menschen innewohnen, die ihn überhaupt zum Menschen machen und denen gemäss er leben können muss, um sich voll zu entwickeln, sind Gegenstand der naturwissenschaftlichen, empirisch arbeitenden Psychologie.

Es ist nicht leicht, sich von der Natur des Menschen ein reales Bild zu machen. Schwer lasten Jahrtausende vorwissenschaftlicher, religiöser Kultur auf den heutigen Menschen. Mystische Wahnvorstellungen, und eine veraltete Moral prägen zutiefst in der Psyche eines jeden das Bild, das er sich von seiner Person und seinen Artgenossen macht. Durch die naturwissenschaftliche Psychologie sind wir aber heute imstande, den Schutt wegzuräumen, der die Sicht von der Natur des Menschen verstellt.

Sozialität und Lernfähigkeit

Das Kind kommt zur Welt ohne Instinkte und nur mit einigen wenigen Reflexen ausgerüstet; es ist zwar, wie alle anderen Lebewesen auch, auf Überleben angelegt, kann aber mit dem äusserst geringen Rüstzeug, das ihm die Natur mitgibt, dieses Ziel alleine nicht erreichen. Dazu bedarf es vielmehr der jahrelangen Pflege und Anleitung durch seine Artgenossen. Sicherstellung der Ernährung und körperlichen Pflege allein genügen auch nicht zum Überleben. Erst die Möglichkeit der Gefühlsentwicklung in einer Beziehung schaffen die Grundlage zur Existenz.

Das Neugeborene, ein »animalisches Wesen«, hat also nur durch Hilfe und Zuwendung seiner Artgenossen eine Überlebenschance. Und da es als Lebewesen aufs Überleben eingestellt ist, sucht es, völlig unbewusst zwar, ebenfalls die Beziehung aufzunehmen, es reagiert und beginnt sich ganz auf seine Beziehungspersonen auszurichten, von denen seine Existenz abhängt.

Wenn wir nun sagen, dass die Natur des Menschen sozial ist, so kann das nicht so verstanden werden, als sei ihm diese angeboren. Vielmehr sind die Bedingungen für sein Überleben dergestalt, dass er notwendigerweise und gänzlich auf den sozialen Bezug angewiesen ist.

In der ganzen ersten Phase seines Lebens richtet sich nun das kleine Kind, allein bestimmt vom Trieb zum Überleben, gänzlich auf die Personen aus, die ihm Beziehung entgegenbringen und von denen es völlig abhängig ist. In der Erkenntnis dieser Tatsache liegt die Tragweite des psychologischen Menschenverständnisses.

Aus der Evolution ist der Mensch mit einem Gehirn hervorgegangen, das mit seinen 15 Milliarden Nervenzellen und einer astronomischen Zahl von Kombinationsmöglichkeiten zwischen ihnen ausserordentlich leistungsfähig ist und ihm praktisch unbegrenzte Lernfähigkeit sichert. Dieses Organ nimmt nun beim Säugling seine Funktion zur Überlebenssicherung auf. Das kleine, völlig hilflose Wesen beginnt, seine Beziehungspersonen wahrzunehmen, es fängt an, deren Gefühle beim Stillen, bei der Körperpflege und bei jeder Beschäftigung mit ihm zu registrieren und darauf zu reagieren. Die Eindrücke beginnen sich zu einem Bild zusammenzusetzen. Obwohl dies alles völlig unbewusst geschieht, stellt sich das Kind so auf seine Beziehungspersonen ein. Es merkt, dass die Mutter immer kommt, wenn es schreit, oder dass es Zuwendung bekommt, einfach weil es da ist. Es spürt, ob Nervosität und Unsicherheit oder sogar Ablehnung herrschen oder ob es schön ist, auf die Mutter angewiesen zu sein, weil von da Wärme und Wohlwollen herkommen. Es nimmt wahr, wenn die Mutter die geschlechtlichen Körperteile unwillkürlich anders und mit anderen Gefühlen anfasst und pflegt als den übrigen Körper.

Die elterlichen Haltungen prägen so die frühesten kindlichen Erlebnisse. Das Bild, das im Kind von sich und seiner Umgebung entsteht, orientiert sich an den Gefühlen der Eltern bei der Pflege und Beschäftigung mit ihm. So beginnt die Psyche eines Kindes sich zu bilden, welche man zu Recht als Organ der zwischenmenschlichen Beziehung bezeichnet und deren Information für das ganze spätere Leben von grundlegender Bedeutung sind.

Dadurch, dass der Mensch nicht eine ausgebildete Psyche mit zur Welt bringt, sondern Gefühle und Charakter durch Lernen erwirbt, besteht eben auch die Möglichkeit, Falsches zu lernen, ja sogar Dinge, die dem Leben völlig entgegengerichtet sind. Aus seinem Ausgeliefertsein heraus hat das Kind keine andere Wahl, als in den Gefühlen, Zuständen und Meinungen, die im Elternhause bestehen, sich irgendwie zurechtzufinden, eine bestimmte Rolle einzunehmen, durch die es ein Restchen an Anerkennung erreichen kann.

In einer Zeit der Hilflosigkeit und der Abhängigkeit von seinen Betreuern erlebt das Kind Schläge, Kritik und Streit. Erwachsene Menschen schildern in psychotherapeutischen Gruppensitzungen oft, unter welch erniedrigenden und schädlichen Bedingungen sie sich als Kinder um Anerkennung und die lebenswichtige Zuwendung bemühen mussten.

Aus der Erziehung in unserer Kultur gehen, eben gerade weil die Menschen lernende Wesen sind, gebrochene und zerstörte Menschen hervor, die sich das Leben nicht einrichten können, da sie von gefühlsarmen, unglücklichen und unwissenden Eltern eine völlig falsche Vorstellung von sich und der Welt gewonnen haben.

Die Lernfähigkeit steht im Dienste des Überlebens und gehört zur Natur des Menschen. Die Evolution ist so verlaufen, dass bei vielen Tierarten mit fortschreitender Gehirnentwicklung auch die Funktion des Lernens immer wichtiger und ausgeprägter wurde. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Mensch, der bei seiner Geburt weder Instinkte noch angeborene Verhaltensweisen oder mitmenschliche Gefühle in sich trägt. Er muss alles, was für das Leben wichtig ist, in der Beziehung zu seinem Mitmenschen lernen, und er lernt bis zum Tode. Die falsche Behandlung im Kindesalter führt jedoch dazu, dass die Lernfähigkeit stark eingeschränkt wird. Das Kind, dem das Lernen nicht zugetraut wurde oder dem man alles abgenommen hatte, so dass es nicht selbst üben konnte, lebt später als ein Erwachsener, der keine Ahnung hat, wie lern- und leistungsfähig er eigentlich sein könnte. Auch das Kind, das in der Vorstellungswelt des Konkurrenzdenkens aufgewachsen ist, hat grosse Schwierigkeiten und Ängste, weil in seiner Weltsicht mit dem Lernerfolg stets Sein oder Nichtsein als Persönlichkeit verbunden ist. Die Meinung, dass der Mensch, wenn er zur Welt kommt, durch Erbanlagen und Vorbestimmungen unverrückbar festgelegt sei, sitzt zutiefst in uns. Für unser Gefühl sind wir eben dumm oder auf diesem oder jenem Gebiet nicht begabt; unsere Intelligenz ist eine feste Grösse, die sich durch einen Intelligenzquotienten ausdrücken lässt. Mit dem Charakter ist es genauso: Da gibt es eben faule oder freche, brave oder böse Menschen, Depressive oder Frohnaturen. Welch grosse Mühe es uns bereitet, uns als Gewordene zu verstehen und als Lernende zu sehen, wird in den Gruppengesprächen und in der Therapie deutlich. Aber da der Mensch ein lernendes Wesen ist, vermag er auch umzulernen. In der Psychotherapie haben wir die Möglichkeit, uns am naturwissenschaftlichen Menschenbild neu zu orientieren und so zu lernen, unserer Natur entsprechend zu leben.

Urangst

Es ist eine Eigenschaft lebender Materie, alles zu tun, was zur Aufrechterhaltung des Lebens nötig ist.

Dazu gehört die Sicherstellung der Ernährung, die Fortpflanzung und der Schutz vor lebensfeindlichen Einflüssen. Jedes Lebewesen reagiert auf Veränderungen seiner Umgebung und sucht sich den neuen Bedingungen anzupassen. Die Angst ist ein natürlicher Schutzmechanismus und dient dem Prinzip der Lebenserhaltung.

Aus der psychologischen Praxis wissen wir, dass in unserer Kultur die Menschen praktisch ausnahmslos stets mit mehr oder weniger grossen Ängsten leben. Da ist die Angst vor den anderen Menschen, die Angst schlecht dazustehen, nicht zu genügen, den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen zu sein, etwas nicht zu können, nicht zu wissen, nicht fähig zu sein, zu lernen. Wir kennen die Angst vor der Beziehung, vor Ablehnung, Strafe und dem Ausgeschlossensein, da sind die Ängste vor dem Jenseits, der Hölle, vor Verbrechen, Krise und Weltuntergang.

Alle diese Ängste stimmen zumeist mit der Realität keineswegs überein. Es sind die unbewussten Erlebnisse aus der Kindheit, die hier wirken und mit denen alles, was geschieht, interpretiert wird. Autoritätsangst und Gehorsam wirken sich sogar so aus, dass die Menschen, obwohl hier wirklich grosse Angst am Platze wäre, sich in den Krieg schicken lassen, um ihr Leben zu verlieren. Um diese Ängste von den biologisch begründeten Schutzmechanismen zu trennen, verwenden wir für letztere den Ausdruck der Urangst. Von dieser können wir sagen, dass sie zwar zur Natur des Menschen gehört, aber, von einigen Reflexen abgesehen, nicht instinkthaft und nicht vererbt ist, sondern dass der Mensch die lebenserhaltenden Mechanismen und Reaktionen ebenfalls im zwischenmenschlichen Bezug über die Gefühle und Empfindungen lernen muss.

Sexualität

Wenn von der Sexualität gesagt wird, dass sie zum Leben gehört wie Essen und Trinken, so können wir damit kaum etwas anfangen. In unserem Gefühl ist es so, dass die Sexualität ein Randdasein führt und auch dieses noch ohne Berechtigung. Daran zeigt sich in seiner ganzen Deutlichkeit, welch verheerende Wirkung das menschenfeindliche Klima unserer christlich-abendländischen Kultur auf die Erziehung hat.

In bezug auf die Fortpflanzung sind in der Evolution verschiedene Wege beschritten worden. Einer von denen, die sich als gangbar erwiesen, war derjenige der Auftrennung in Individuen mit gesonderten Geschlechtsmerkmalen, in Männchen und Weibchen. Bei dem weitaus grössten Teil dieser Tierarten nun findet die Fortpflanzung auf dem Weg der Begattung statt, das heisst, Männchen und Weibchen haben Geschlechtsverkehr. Während die Bereitschaft dazu bei fast allen anderen Tieren auf eine gewisse Zeit im Jahr beschränkt ist, können die Menschen die Sexualität praktisch jederzeit ausüben. Die Sexualität ist ein Trieb und die sexuelle Betätigung ein elementares Bedürfnis im Leben. Wird dein nicht Rechnung getragen, so kommt es zu ernsthaften Störungen im Körper- und Gefühlshaushalt; die unterdrückte Natur wehrt sich. Bei einer hohen Zahl von körperlichen und seelischen Krankheiten und Beschwerden spielt die Verneinung des Sexualtriebes eine grosse Rolle. Schon die kleinen Kinder empfinden Lustgefühle beim Betasten und Reiben ihrer Geschlechtsorgane. Später beginnt beim Knaben sein Glied oft steif zu werden. In der Nacht können Samenergüsse erfolgen. Solange die Jugendlichen noch keinen Partner haben, onanieren sie häufig. Der Geschlechtsverkehr mit einem Partner dann ist ein schönes und lustvolles Erlebnis. Je tiefer die Beziehung wird und je freier sie sich gestaltet, desto erfüllender und bereichernder wirkt sich die Sexualität auf das Lebensgefühl aus.   – Bis ins hohe Alter pflegt der Mensch die geschlechtliche Beziehung zu seinem geliebten Gegenüber.

Doch wie sieht es in unserer Kultur aus? Wir sind nicht imstande, unseren Bedürfnissen, unserer Natur entsprechend zu leben. Die falsche, unnatürliche, von religiösen Wahnvorstellungen herrührende Sicht über die Sexualität hat uns in der Erziehung auch hier zu seelischen Krüppeln gemacht. Nacktheit gilt in den meisten Familien als anstössig oder tabu. Das kleine Kind kann seinen Forscherdrang nicht befriedigen   – wenn es seinen Körper kennenlernt, verbieten oder verhindern die Eltern sein Spiel mit den Genitalien. Überhaupt merkt es, dass bei den Eltern andere Gefühle ins Spiel kommen, wenn es sich um etwas handelt, das mit der Geschlechtlichkeit zu tun hat. Wehe, wenn es beim »Dökterli«-Spiel oder gar beim Onanieren ertappt wird. Auch dem lieben Gott gefällt das nicht, und er sieht überall hin.   – Viele Erwachsene können sich nicht erinnern, gesehen zu haben, wie ihre Eltern Zärtlichkeiten austauschten. Der Nimbus des Unantastbaren, Geheimen und Schmutzigen, der den Bereich des Sexuellen umgibt, verhindert auch, dass die Kinder offen und selbstverständlich informiert werden über die Funktionen der Geschlechtsteile und die Entstehung eines Kindes. Dem jungen Menschen, allseitig von umfassender und sachlicher Information ausgeschlossen, bleibt nur noch der Weg in die Phantasie, und die sexuelle Betätigung erfolgt in irgendeiner perversen Form. Oft genug wird auch noch die Partnersuche erschwert, indem die Eltern, von ihren eigenen von der religiösen Moral geprägten Gefühle gelenkt, dem Jugendlichen alle möglichen Hindernisse in den Weg legen, aus grosser Sorge zwar um die Rechtschaffenheit ihres Kindes, aber ohne Gefühl und Verständnis für die wirkliche Sachlage.

Es ist nicht nur die Sexualität, die negiert wird. Einher damit geht die Verachtung des ganzen Körpers überhaupt.   – Können wir ermessen, welch ungeheures psychisches Elend dahinter steht, dass ein Lebewesen, wie der Mensch in dieser Kultur, seinen Körper ablehnt   – das, was er ist, woraus er überhaupt besteht, die natürliche Form, in der er aus der Evolution hervorgegangen ist?

Eifersucht

Die Frage, ob die Eifersucht auch zur Natur des Menschen gehöre, ist sehr schwierig, und wir müssen sie mit ja und nein beantworten. Jeder kennt   – mehr oder weniger ausgeprägt   – Gefühle der Eifersucht. Dadurch, dass ein Kind nicht einfach anerkannt wird, weil es da ist, sondern dass die Anerkennung abhängt von erbrachter Leistung, von zu erfüllenden Bedingungen, wird im Kind ein grundlegendes Unsicherheitsgefühl geschaffen. Ein Geschwisterchen, das noch kommt, andere Menschen, jemand, der etwas schon kann oder besser kann, wird vom unverstandenen Kind als Bedrohung empfunden. Der andere könnte mehr gelten als es selbst, weil er gescheiter, tüchtiger, stärker, geschickter ist, das Geschwister könnte eher die Gunst der Eltern erlangen, da es braver, williger, lieber, nicht so faul und schwierig ist. Es drückt sein Elend durch irgendeine Art aus, vielleicht durch Streiten, Kämpfen, Brüllen, Krankheit, Bettnässen, Stottern oder auch Depression und Schweigsamkeit. Aber da Eifersüchtig-Sein verpönt ist, ja als Grundübel des sündigen, bösen Menschen gilt, versuchen die besorgten Eltern mit Strafen und Schlägen das Kind wieder auf den rechten Weg zu bringen oder sonst die Symptome zu bekämpfen und zu korrigieren. Sie wissen nicht, dass sie das Kind so noch weiter in die Verzweiflung treiben. Da es weiss, dass es eigentlich nicht eifersüchtig sein sollte, empfindet es Schuldgefühle und lehnt sich ab. Im ganzen späteren Leben werden durch die Eifersucht zahlreiche Probleme ausgelöst. So wird durch die Eifersucht die Beziehung in der Partnerschaft gestört, das Zusammenleben mit den andern Menschen ist schwierig und am Arbeitsplatz ergeben sich immer wieder Differenzen.

Dies liegt jedoch nicht in der Natur des Menschen. Er ist zwar als soziales und lernendes Wesen immer in der Situation, dass er sich mit seinen Mitmenschen vergleicht. Natürlich möchte er auch können, auch lernen. Aber wenn nicht seine Lebensberechtigung davon abhängt, ob er schon kann und schon weiss, entwickelt er nicht die Gefühle, wie wir sie heute als Eifersucht kennen. Im Bewusstsein, auch geschätzt und geliebt zu sein, und in der Sicherheit, alles auch lernen zu können, wird das eigene Bemühen und Nacheifern nicht begleitet sein von der Eifersucht als Gefühlsinhalt, sondern die Eifersucht wird eine Reaktion sein auf das, was die anderen machen. Sie wird sich nicht als Krankheit aus drücken, sondern der Mensch wird so reagieren, dass er voranschreitet und lernt. Die Eifersucht ist also eine Reaktion, die im sozialen Bezug und durch die Lernfähigkeit entsteht und somit auch der Natur des Menschen zuzuschreiben ist.

Gleichwertigkeit

Um es vorerst negativ zu formulieren: Es ist nicht naturgegeben, dass wenige Menschen über den andern stehen, sie beherrschen und über Tod und Leben entscheiden. In der jahrtausendelangen Geschichte der Entwicklung der menschlichen Kultur haben sich verhängnisvolle Fehler ergeben.

Die Not der Urmenschen war gross, eine Überlebenschance in der Wildnis hatten sie nur durch das Zusammenleben in Gruppen. Nach Erklärungen suchend und ihre eigene Anschauung projizierend, dachten sich die Menschen die Natur von unfassbaren Mächten beseelt, die den Lauf der Dinge bestimmten. Besonders geschickten und starken Gruppenmitgliedern schloss man sich an und wähnte sie des Zugangs zu jenen Mächten befähigt. So entstanden Unterschiede zwischen den Menschen, es bildete sich eine Priesterkaste heraus. Das Oben-und-Unten-Denken begann und pflanzte sich, da es im Gefühl verankert wurde, von Generation zu Generation fort, die Entwicklung ganzer Kulturen bestimmend. Dieses Unglück hat die Menschheit bis heute gehindert, das Joch der Ungleichheit abzuwerfen. Viele Philosophen haben sich darüber Gedanken gemacht, Denker und Forscher haben sich Stückchen um Stückchen Kenntnisse und Wissen über die Natur verschafft. Doch manche wertvolle Gedanken der Aufklärung sind bis heute nie ernst genommen worden. Wenn wir nicht eine Macht, die alles bestimmt, und Gesetze, welche alles regeln und in geordnete Bahnen lenken, über uns hätten, so lebten wir im Chaos und niemand wäre seines Lebens sicher. Mit dieser Meinung und diesen Gefühlen leben wir, weil uns das in der Erziehung so vermittelt wird. So aber kann sich der Mensch nicht entfalten. Er wird wiederum um einen Aspekt seiner sozialen Natur betrogen. Denn das möchte der Mensch; als geschätztes und geliebtes Mitglied einer Gesellschaft leben, in der es keine Rang- und Wertunterschiede zwischen Menschen gibt, sich als Gleicher unter Gleichen wohlzufühlen und mitzutun im Leben, sich zu beteiligen an der Lösung der auftretenden Probleme. Die Gleichwertigkeit entspricht seiner sozialen Natur und ist mithin ein Bestandteil davon.

Egoismus

Alles Leben ist auf das Erhalten seiner selbst ausge richtet. Alle Reaktionen, Nahrungsaufnahme und gegenseitige Hilfe dienen dem Fortbestand des eigenen Lebens. Es liegt also in der Natur jedes Lebewesens, dass es egoistisch handelt.

Der Mensch ist sozial aus Egoismus. Sein Überleben ist nicht anders als unter anderen Menschen denkbar. Mit ihnen zu leben, ihre Anerkennung zu haben und Beziehung zu pflegen, liegt in seinem ureigenen egoistischen Interesse. Er hat keinen Aggressionstrieb. Es käme ihm, wenn er in der Erziehung nicht völlig irritiert worden und verwahrlost wäre, nicht in den Sinn, irgendwelche Handlungen zu begehen oder Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die seinen Mitmenschen Schaden zufügen und sie stören würden. Er könnte sich freuen am Leben und würde von sich etwas halten.

Doch da die Eltern in der Erziehung mit einem falschen Bild an das Kind herantraten, kann es nicht den Egoismus entwickeln. Es wird zum gebrochenen Menschen, der nicht zu sich stehen und nicht seine wirklichen Interessen vertreten kann. Der Egoismus wird verpönt, ihm als schändlich und moralisch verwerflich hingestellt; Selbstaufopferung, Pflicht und Leiden sind wichtig. So kann der Mensch nicht als sozialer Egoist seine Bedürfnisse befriedigen, sondern er muss sich auf ein schöneres Leben nach dem Tod einstellen und sich mit der Phantasie über Wasser halten.

Aus allem oben Geschilderten geht hervor, dass das menschliche Leben, wie es sich heute abspielt, zumeist keineswegs der Natur des Menschen entspricht. Die dualistische Anschauung setzt den Wert des Daseins auf der Welt herab. Das Leben erscheint so als Durchgangsstadium, der Körper als vergänglicher Träger des unsterblichen Geistes. Die Natur des Menschen gilt als schlecht, böse und verderblich für den Geist und muss mit allen Mitteln bekämpft und niedergehalten werden. Diese Anschauung bildet die Grundlage der heutigen Erziehung. So wird der Mensch seelisch irritiert und ist dann unfähig, ein würdiges Leben in Gemeinschaft mit andern zu führen.

Doch dieses Bild entspricht nicht der Wirklichkeit und nicht der Natur des Menschen. Er ist kein spezielles Wesen, das eigentlich auf der Welt nichts zu suchen hat und dessen Leben hier nur durch Vorschriften und Strafen geregelt werden kann. Nein, der Mensch stammt aus der Evolution, und die Natur, die er von da her in sich trägt, befähigt ihn, unter richtiger Anleitung ein freies und glückliches Leben in der Gemeinschaft zu führen.