Kafkas große Romane

Die Stimme Franz Kafkas, leise und eindringlich, hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte einen immer größeren Kreis von Zuhörern erobert. Dies rührt sicherlich nicht bloß daher, daß Kafkas Werke in meisterhafter Weise literarisch gestaltet sind. Die grandiose epische Linienführung und die Urwüchsigkeit des Stils allein würden nicht genügen, Kafka zum repräsentativen Schriftsteller unserer Zeit zu machen.
Die eigentliche Größe Kafkas liegt in der Thematik seiner Romane und Erzählungen. Es gibt kaum eine Erscheinung in der modernen Literatur, die mit einer derartigen thematischen Folgerichtigkeit das Wesen des Menschen transparent zu machen weiß. Kafka ist nichts Geringeres als ein Dichter des Menschen, des Menschen der Gegenwart und jenes überzeitlichen Menschen, der allen historischen Wandlungen zugrunde liegt. In diesem Sinne sagt Kafka dem Menschen von heute so viel, als die Literatur überhaupt nur zu sagen vermag. Und dies mit solch letztgültiger Entschiedenheit, daß ein Vergleich mit den Gipfelpunkten der Weltliteratur durchaus naheliegt.
Kafkas Romane bedeuten für das moderne Menschentum ein ähnliches wie «Ilias» und «Odyssee» für die griechische Antike, wie die «Göttliche Komödie» für das Mittelalter, wie der «Faust» für die klassische Epoche. Seine drei großen Romanfragmente sind sowohl der «Faust» des Menschen von heute als auch seine «Göttliche Komödie», seine «llias» und seine «Odyssee».
Kafka schildert den Menschen auf dem Wege zur Wahrheit. Diese Wahrheit hat nichts mit Erkenntnistheorie und wissenschaftlicher Einsicht zu tun — es ist die existentielle Wahrheit, die Wahrheit des Lebens. Wahrheit der Existenz bedeutet eine Gewißheit, die dem Leben Ziel und Richtung anzuweisen vermag. Kafkas Helden suchen eine derartige Gewißheit, und sie scheitern daran, daß sie für sie unerreichbar bleibt. Die Unwahrheit ist dem Menschen eher gemäß als die Wahrheit. Er vermag in der Unwahrheit zu leben, den Ruf seines Gewissens ständig zu überhören und das Abenteuer des Lebens in die beruhigende, in der Ungewißheit verharrende Alltäglichkeit umzuwandeln.
Trotzdem läßt das Gewissen niemals ab, zu einem eigentlichen, verantwortungsbewußten und damit wahren Leben zu mahnen — vor den «Gerichtshof seines Gewissens» gestellt, erfährt der Mensch, daß er für sich selbst im weitesten Ausmaß verantwortlich ist. Das Gewissen ruft dem Menschen ein «Du sollst!» zu, das die menschlichen Kräfte übersteigt; vor dem Gewissen ist der einzelne immer auch schuldig, weil er hinter dessen Forderungen zurückbleiben muß. Darum steht der, dem sein Gewissen den Prozeß eröffnet hat, vor einer grenzenlosen Bemühung, die zeit seines Lebens kein Ende nehmen kann.
«Der Prozeß»
Im «Prozeß» wird der Prokurist Josef K. von einem unbekannten Gericht angeklagt. Er ist sich keines Vergehens bewußt. Seinen Beruf füllt er mit überdurchschnittlicher Tüchtigkeit aus, so daß er in der Bank eine Art Vertrauensposten bekleidet. Aus völlig unerfindlichen Gründen wird er, sozusagen «mitten im Leben», vor Gericht gestellt. Er ist 30 Jahre alt geworden, hat sich nichts zuschulden kommen lassen, und doch tritt eine verborgen bleibende Instanz an ihn heran und eröffnet ihm den Prozeß. Untergeordnete Beamte kommen zu ihm und erklären ihn für verhaftet, was ihn aber nicht hindern soll, seiner Arbeit nachzugehen.
Das Verfahren ist eingeleitet. Josef K. versieht weiter seinen Posten in der Bank, er lebt sein gewohntes Leben, nur daß er zusätzlich noch die Last eines Prozesses zu tragen hat. Merkwürdig ist, daß er im Grunde den Prozeß irgendwie berechtigt findet, wenn er auch mit allen Mitteln seine Unschuld zu beweisen sucht. Merkwürdiger noch, daß zwischen dem Gericht und ihm eine derartige Beziehung besteht, daß er auch durch ganz vage Andeutungen befähigt ist, den Gerichtssaal zu finden.
Das Gericht tagt in einer armseligen Vorstadtstraße, in einem Häuserblock, in dem die ärmsten Schichten der Bevölkerung wohnen. Josef K. hat Mühe, bis er in einem der Stockwerke den Gerichtssaal findet. Der Gerichtssaal selber ist dunkel, die «Geschwornen» von seltsamer Unscheinbarkeit, und der Richter geheimnisvoll verworren redend, so daß K., der sich gegen eine ihm völlig unklare Anklage zu verteidigen hat, durch die erste Verhandlung in eine tiefere Verwirrung hineingestoßen wird.
Überraschenderweise verbreitet sich die Kunde von seinem Prozeß unter seinen Verwandten und Bekannten. Ein Onkel sucht ihm einen Anwalt, der mit dem «Gericht» gute Beziehungen aufrechterhält. Der Anwalt hält K.s Sache für aussichtsreich, kann aber nicht sagen, wie der Prozeß zu beschleunigen wäre. Das Absurde ist überhaupt, daß das Gericht unzugänglich ist. Man kann sich wohl an untergeordnete Instanzen wenden, aber die höheren Richter interessieren sich für die «Fälle» nur selten. Und doch hängen von ihnen die Entscheidungen ab.
Es bleibt nichts anderes übrig als zu warten, bis es dem Gericht gefällt, seine Entschlüsse zu fassen. Inzwischen wird K. immer mehr von seinem Prozeß in Anspruch genommen. Er denkt daran, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten. Sie soll alles enthalten, was ihn zu entlasten vermag. Vielleicht wird dadurch auch die unbekannte «Anklage» entkräftet. K. tappt völlig im Dunkeln. Durch das ständige Nachdenken über seinen Prozeß versagt er im Beruf. Er hat den Kampf mit unsichtbaren Gegnern aufgenommen.
Es ist aber offensichtlich, daß er trotz seinem Wunsch, sich zu verteidigen, im Grunde Ausflüchte sucht. Er wittert in den Mitmenschen, vor allem in den Frauen, Verbündete, die ihm bei seinem Prozeß nützen könnten. Seinen Anwalt, einen Vertrauten des Gerichts, entläßt er, weil er die Verteidigung selber führen will. Dann aber wieder erklärt er vor sich selbst den ganzen Prozeß als nichtig und ist bemüht, ihn zu vergessen. Das ständige Ausweichen macht seine Sache schlimmer.
Eines Tages erscheinen zwei sorgfältig und elegant gekleidete Herren und teilen ihm mit, daß er verurteilt sei. Sie fordern ihn auf, ihnen zu folgen, und das Rätselhafte ist, daß ihnen Josef K. ohne jegliches Widerstreben folgt. Sie führen ihn aus der Stadt heraus und töten ihn mit einem Messer, nachdem sie in lächerlicher Weise einander das Recht der Urteilsvollstreckung wechselseitig zu übertragen versuchen.
Der Verurteilte, der dies alles ruhig über sich ergehen läßt, äußert vor seinem Tode nur: «Wie ein Hund!» Das sind seine letzten Worte, und der Dichter fügt noch bei: «Es war, als sollte die Scham ihn überleben.»
Eine solche Erzählung eröffnet zahlreiche Deutungsmöglichkeiten. Die Psychoanalyse hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich in dieser Handlung Kafkas Lebensproblematik spiegelt. Franz Kafka, geboren im Jahre 1863 in Prag als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, hat zeit seines Lebens an einer starken Vaterbindung gelitten, die ihm den Kontakt zu seiner Umwelt, insbesondere zu Frauen, erschwerte. In seiner juristischen Tätigkeit als Beamter einer Unfallversicherungsanstalt machte ihm seine innere Problematik bedeutende Schwierigkeiten.
Dazu kommt wohl, daß er als Jude jene Zurücksetzung erleben mußte, die aus dem latenten und manifesten Antisemitismus der «christlichen Welt» mit Notwendigkeit hervorgehen. In der Erzählung «Das Schloß» ist das Streben nach Verwurzelung und Eingliederung in die Gemeinschaft unübertrefflich dargestellt. Es ist durchaus richtig, hier soziologische Kategorien zur Deutung heranzuziehen. Nicht minder haben die tiefenpsychologischen Gesichtspunkte ihre Berechtigung. Doch das ist nicht alles. Wenn Kafka seinen Blick auf das Wesen des Menschen richtet und seine Erfahrung über das Menschsein in seine großen Romane einkleidet, so müssen diese in einer Weise gedeutet werden, in der der Sinn des Menschenlebens überhaupt zum Problem werden kann. Kafkas Romane beinhalten Philosophie.
Mit Recht hat man den Prozeß eine «in Handlung umgesetzte Ethik» genannt, so wie auch «Das Schloß» ein theologischer Roman ist, in dem allerdings das Göttliche so dargestellt wird, daß ihm jegliche Existenzberechtigung abgesprochen werden muß. Man wird da an die Sentenz von Cocteau erinnert: «Ja, es gibt einen Gott — den Teufel!» Wenn Kafka tatsächlich Gott in seinen Werken darstellen wollte, dann ist dieser Gott samt seinen «Beamten» ein Tyrann, ein Mörder — der Himmel ein chaotischer Wirrwarr, jeglicher Verantwortung bar, unsittlich bis zum Exzeß, ohne Güte und Gerechtigkeit. Gerade das macht die Auslegung, die Kafkas Herausgeber Max Brod immer wieder abwandelt, zu einem Paradoxon. Kafkas Romane widersprechen dem Interpreten, der behauptet: «Somit wären im ‚Prozeß‘ und im ‚Schloß‘ die beiden Erscheinungsformen der Gottheit (im Sinne der Kabbala) — Gericht und Gnade — dargestellt.»
Vielleicht ergibt sich ein Zugang zum Herzensstück des Kafkaschen Werkes, wenn man es im Hinblick auf die Stellung des Menschen in seiner Welt betrachtet. Diese Romane sind, wie alles, was der Mensch weiß und ausspricht, Erfahrungen eines Bewußtseins. So gesehen, kann jede Schöpfung der Kunst auf jenen Schauplatz zurückversetzt werden, auf dem sie entstanden ist: die Innerlichkeit eines Menschen, in dessen Bewußtsein Ideal und Wirklichkeit, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Haß, Kleinmut und Wille zum Grenzenlosen auf engstem Räume beisammen wohnen. Diese kleine Welt der Innerlichkeit geht nicht mit dem äußeren Lebensgang eines Menschen konform — unsere Sehnsucht strebt immer über das Wirkliche hinaus. Man kann scheinbar in völliger Vertrautheit mit dem alltäglichen Leben weiterexistieren, und doch ist es möglich, daß sich im Bewußtsein eines Menschen Wandlungen vorbereiten, die mit der alltäglichen Form unseres Lebens nur durch eine Verneinung verknüpft sind.
Ein Beispiel hierfür ist der Ruf des Gewissens. Dieser Ruf, ein eigentliches Leben fordernd, durchtönt unser ganzes Dasein — er dringt durch alle Mauern, die der Mensch vor sich selbst errichtet; er durchbricht die alltägliche Oberflächlichkeit, das Spiel vor den Kulissen, die gekünstelte Sorglosigkeit angesichts des Todes.
Das Gewissen ist eine Behörde in uns, die uns zeit unseres Lebens den «Prozeß» macht. Wir können uns diesem Prozeß entziehen, und jeder verfügt über eine mehr oder minder geschickte Technik der Ausflüchte und Entschuldigungen. Aber der Prozeß geht immer weiter. Er muß zumeist mit abwesendem Angeklagten geführt werden. Manche sterben, ohne jemals vor ihrem Richter — dem inneren Richter — erschienen zu sein. Kafka schildert die Tragödie eines Menschen, der auf halbem Wege stehengeblieben ist.
Josef K. wird 30 Jahre alt und hat bislang ein «ordentliches» Leben geführt. Und doch wird ihm der Prozeß eröffnet. Er selber scheint zu wissen, daß er schuldig ist, denn er akzeptiert das Verfahren der unbekannten Instanzen. Seine Schuld ist zweifellos keine im juristischen Sinne. Vor dem Gewissen sind wir in moralischer Hinsicht in Frage gestellt — darüber hinaus auch in existenzieller. Das Leben dieses Prokuristen ist trotz seiner Deliktlosigkeit «schuldhaft». Es ist nicht eigentlich. Josef K. ist ein gewissenhafter Arbeiter, aber die Arbeit rehabilitiert nicht vor dem Gewissen. Sein Versagen liegt in der Ordnung der Liebe, die er zu einer unpersönlichen, körperhaften Beziehung ausgestaltet hat.
So steht er außerhalb der «ordre du cɶur», die allein dem menschlichen Leben Sinn verleihen kann. In die Einöde dieser nur beruflichen Existenz ertönt der Gewissensruf. Aber Josef K geht in der Anerkennung dieses Rufes nicht weit genug. Er verteidigt sich zu früh. Er läßt das Gewissen nicht zu Ende sprechen, genau so, wie er seinen Richter im dunklen Gerichtssaale unterbricht und seine wohldurchdachte Verteidigungsrede von Stapel läßt. Der Kampf, den er gegen sich selber führt, soll mit einer Niederlage des Gewissens enden, einer Niederlage, die aber auch die gewaltsame Auslöschung dieser vor ihrem eigenen Gewissen so widerspenstigen Existenz in sich schließt.
Es liegt durchaus nicht unbedingt in der Konsequenz der Sache, daß Josef K. hingerichtet werden muß. Der allgemeine «Normalfall» ist der, daß der Prozeß durch das ganze Leben andauert. Darum sind auch die Wartesäle vor den Gerichtsbüros mit Angeklagten überfüllt. Manche werden freigesprochen, was aber nicht ausschließt, daß einige Zeit später der Prozeß erneuert wird. Ein Beamter hat inzwischen gefunden, daß die alten Anschuldigungen nicht ordnungsgemäß erledigt wurden, oder es sind neue Schuldfragen aufgetaucht. Man sieht: Kafkas Gericht ist immer tätig.
Ein Menschenleben verträgt keinen dauernden «Freispruch». Wir wissen sehr wohl, daß Leben und Handeln identisch ist mit «Schuldigwerden». Schuld kann ebenso sehr im Tun wie im Nichttun liegen. Wir haben die Folgen unseres Tuns und Lassens niemals vollständig in der Hand. Bei genauerer Betrachtung bleiben wir immer hinter unseren Möglichkeiten zurück. Jeder Schritt bringt uns vor die Alternative Gut und Böse, Wahrheit und Unwahrheit, und es hieße das menschliche Leben idealisieren, wenn man das Gute und das Wahre zum unverlierbaren Besitz eines einzelnen oder einer Gesamtheit erklären wollte. Wir haben immer Anlaß, den Prozeß gegen uns zu eröffnen, und es ist nur eine in gewissen Grenzen berechtigte Trägheit des Herzens, die uns vor uns selbst beruhigt. Kafkas Ethik der Hellsichtigkeit untergräbt diese Ruhe. Sie will den Menschen in jene grenzenlose Unruhe versetzen, die jeder kennt, der sich einmal und in entscheidender Weise in Gewissensnot befunden hat.
Wenn der einzelne vor seinem Gewissen steht, ergeht an ihn die Forderung nach Wahrhaftigkeit. Wer aber das Wahre will, muß zuerst wissen, was das Wahre sei. Hier kann man sich einem Dogmatismus verschreiben, und damit der Entscheidung über die Wahrheit aus dem Wege gehen. Auf dieser Ebene ist es gleichgültig, ob man einen blinden Glauben, irgendeine Tradition, eine Religiosität, ein alltägliches, wissenschaftliches oder philosophisches Dogma übernimmt. Überall wird die Wahrheit als schon gefunden vorausgesetzt; sie wird nicht mehr gewählt, sondern bloß übernommen.
Damit entäußert sich der Mensch seiner Freiheit, die wesentlich in einem Wählenkönnen besteht. In der persönlichen Wahl ist jedem die Möglichkeit gegeben, zu seiner Wahrheit zu gelangen, und da jedes Menschenschicksal ein einmaliges ist, und das Abenteuer eines individuellen Lebens durchaus den Charakter der Einzigartigkeit besitzt, ist der einzelne in der Suche nach seiner Wahrheit prinzipiell unvertretbar. Das ist auch der Sinn der Geschichte, die Kafka in den «Prozeß» einschaltet und die schlaglichtartig die Situation des Menschen in der Welt beleuchtet.
Ein Mann vom Lande zieht aus, um das Gesetz zu sehen. Vor dem Hause des Gesetzes findet er einen Türhüter, der ihm den Einlaß verwehrt. Auf das Bitten und Drängen des Mannes erklärt der Türhüter, daß es nichts nützen würde, wenn er ihn einließe; in den inneren Gemächern stünden weitere Türhüter, die ihn gewiß nicht durchließen. Der Mann läßt sich beim Tore nieder und wartet geduldig Jahre und Jahrzehnte in der Hoffnung, den Türhüter umzustimmen. Er wird blind und ist dem Tode nah; als Sterbender sieht er das Licht des Gesetzes durch die Gewölbe strahlen. Und er fragt mit letzter Kraft den Türhüter, wie es denn komme, daß so wenig Menschen sich in den langen Jahren eingefunden hätten, um das Gesetz zu erblicken. «Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist, und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ,Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn'.»
Im Lichte dieser Legende wird der «Prozeß» verständlich. Josef K. unterläßt es, den Weg zum Gesetz, sagen wir, zu seinem Gesetz zu gehen. Die Folge ist, daß, weil er nicht zum Gesetz kommt, das Gesetz über ihn kommt; die Wahrheit, die er verleugnet und die ihn hätte freimachen können, tötet ihn.
«Das Schloß»
Im «Schloß» sind die Rollen vertauscht. Diesmal ist es der Landvermesser K. — man könnte für K. und Josef K. auch Kafka setzen, wie denn auch die Manuskripte ursprünglich das Wort «Ich» enthielten —, der als ein Fordernder und Herausfordernder auftritt und sich den Zugang zu den «oberen Instanzen» erzwingen will. Die Handlung des Romanes ist wieder dürftig und alltäglich und verbirgt wieder hinter der Unscheinbarkeit trivialer Erlebnisse ihre metaphysische Bedeutung:
Der Landvermesser K. kommt spätabends ins Dorf, wohin er durch einen Auftrag vom «Schloß» berufen worden ist. Er will im Wirtshaus übernachten, muß aber erfahren, daß man von seiner Berufung nichts weiß. Es besteht zwar eine telephonische Verbindung mit dem Schloß. Trotzdem ist es unmöglich, mit den «Beamten» vom Schloß Kontakt aufzunehmen. Am andern Ende des Drahtes ertönt nur Gelächter, gelegentlich werden sinnlose Antworten laut. Die Schloßbeamten kommen manchmal ins Dorf, aber auch der unterste Beamte ist nur in günstigen Augenblicken zu sprechen. K. hat also scheinbar gar keine Aussicht, ins Schloß zu gelangen.
Und doch gibt er die Hoffnung nicht auf. Man sagt ihm, daß er als «Fremder» ohnehin keine Chancen habe. Aber auch die Dorfbewohner sind nicht viel besser daran. Die Beamten lassen sich selten herab, mit den Dorfbewohnern zu sprechen. Sie nehmen die Frauen der Dorfbewohner zu Geliebten, und sind dabei nicht selten gröber als der ärgste Pöbel. Das ändert nichts an der Tatsache, daß niemand sich gegen dieses Verfahren auflehnt, das Schloß hat unbeschränkte Rechte über das Dorf. Diejenigen, die im Schloß waren, erzählen K. von einer riesigen Aktenregistratur, von unzähligen Büroräumen, in denen sorgfältig alle Akten über das Dorf aufbewahrt werden. Trotz des gigantischen Aufwandes herrscht aber hierbei keine Ordnung.
Die Entschlüsse überkreuzen sich, widersprechende Anweisungen werden erteilt, und der Wartende in den Registratursälen muß tagelang warten, bis sich ein Beamter ihm zuwendet; und auch dann weiß er nicht, ob der Auftrag, den er erhält, überhaupt ernst gemeint sei. K. ist froh, daß man ihm wenigstens gestattet, im Dorf zu bleiben. Er scheut nicht davor zurück, eine demütigende Stelle anzunehmen in der Absicht, sich den Weg ins Schloß zu bahnen. Die Geliebte eines Schloßbeamten, ein Ausschankmädchen im Wirtshaus, macht er zu seiner Geliebten und später zu seiner Frau im Glauben, so dem Schloß näherzukommen. Dies kennzeichnet auch die Episode mit der Familie Barnabas, die im Dorfe als «ausgestoßen» lebt, weil sich eine Barnabas-Tochter weigerte, einem der Schloßbeamten willfährig und gefügig zu sein. Seither lastet ein Fluch auf der Familie, da sie vom Schloß nicht mehr anerkannt wird. Es ist charakteristisch, daß es K. zu den Barnabas zieht und daß er gerade von ihnen entscheidende Hilfe erwartet.
Es gelingt dem Landvermesser nicht, ins Schloß zu gelangen. Der Roman — wie der «Prozeß» und «Amerika», ein Fragment — bricht in dem Augenblick ab, wo K. eine Unterredung mit einem Beamten gewährt wird und er, anstatt sich am vereinbarten Ort einzufinden, zu schlafen beginnt. Im entscheidenden Moment versagt sein Körper; K. hat wiederum eine Niederlage erlitten. Nach den Mitteilungen Max Brods sollte der von Kafka geplante Schluß der Erzählung in einem ähnlichen Sinne gehalten werden. «Der angebliche Landvermesser erhält wenigstens teilweise Genugtuung. Er läßt in seinem Kampfe nicht nach, stirbt aber vor Entkräftung. Um sein Sterbebett versammelt sich die Gemeinde, und vom Schloß langt eben die Entscheidung herab, daß zwar ein Rechtsanspruch K.s, im Dorfe zu wohnen, nicht bestand, daß man ihm aber doch mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände gestatte, hier zu leben und zu arbeiten.»
Die Wahrheit des menschlichen Lebens
Die Parallelen, die sich zwischen dem Schloßroman und der in den Prozeß eingeschalteten Erzählung des Mannes vom Lande, der auszog, das Gesetz zu sehen, aufdrängen, sind augenfällig. Auch der Landvermesser K. will den Zugang zum Gesetz. Er sucht die Wahrheit, die die Wahrheit seines Lebens sein soll. Und die Wahrheit eines menschlichen Lebens liegt darin, daß man in einer Gemeinschaft Wurzel fassen muß, mit andern Worten: man muß zuerst im Dorf wohnen, bevor man Aussicht hat, mit dem Schloß Verbindung aufzunehmen. Das Leben eines Menschen ist in den Bereich der Wahrheit eingerückt, wenn der Mensch seine «Fremdheit» verliert — der Landvermesser ist im Dorf ein Fremder — und in einer konkreten Gemeinschaft sein «Zuhause» findet. Dazu gehören Liebe und Beruf, die erst dem Gemeinschaftsleben Sinn und Bedeutung verleihen.
Es führt kein anderer Weg zur Wahrheit als derjenige der Einordnung in die mitmenschliche Welt. Darum sagt der Landvermesser beim Abschätzen seiner bisherigen Erfolge: «Ich habe, so geringfügig das alles ist, doch schon ein Heim, eine Stellung und wirkliche Arbeit, ich habe eine Braut, die, wenn ich Geschäfte habe, mir die Berufsarbeit abnimmt, ich werde sie heiraten und Gemeindemitglied werden.» Trotz diesen «günstigen Voraussetzungen» entzieht sich ihm die Wahrheit, und das Schloß bleibt unzugänglich. Dies rührt daher, daß K. sich vor der Ordnung der Liebe verschließt. Er hat Frieda nur deshalb zu seiner Geliebten gemacht, weil er in ihr die Geliebte des Vorstehers Klamm sah, und weil er hoffte, sie für seine Absichten benützen zu können.
Er hat den geliebten Menschen als ein Mittel zum Zweck genommen. So kommt es, daß Frieda durch ihre Verbindung mit K. die «Beziehung zum Schloß», die «allen Frauen eigen ist», verliert. Darum schreibt der Dorfsekretär Momus in sein Protokoll: «Des Landvermessers K. Schuld zu beweisen, ist nicht leicht. Man kann nämlich nur auf seine Schliche kommen, wenn man sich, so peinlich es auch ist, ganz in seinen Gedankengang hineinzwingt... Nehmen wir zum Beispiel Friedas Fall...»
Frieda kann K. nicht helfen, zum Gesetz zu gelangen, weil er sie von vorneherein zu einem Werkzeug degradiert hat. So bleibt seine Stellung im Dorfe fragwürdig. Seinen Beruf als Schuldiener füllt er recht unzulänglich aus. Die Dorfbewohner sind ihm nicht gut gesinnt. Er lebt in Feindesland. Was den armseligen Bauern ohne weitere Bemühung zufällt — Heim, Familie und ein Leben zu Füßen des Schlosses —, um das muß K. als ein Verzweifelter kämpfen. Er ist fremd in dieser Welt, weil sein Herz so gänzlich auf das Schloß ausgerichtet ist. Indem er Licht und Hoffnung ausschließlich seinem Ideale zuwendet, wird ihm die Wirklichkeit entfremdet; im Schloßroman scheint keine Sonne, es ist niemals heller Tag. Die eigentümliche Stimmung, die auf dieser Erzählung lastet, ist die der Verzweiflung, der Verlassenheit und des Scheiterns. Der Landvermesser K. ist verurteilt, Schiffbruch zu erleiden, weil er kein Maß besitzt. Er versagt im Alltagsleben, im Gewöhnlichen. Durchschnittlichen, und gerade da ist es, wo die Wahrheit verwirklicht werden muß.
Diese Auffassung wird bestätigt durch eine Anekdote über Flaubert, die Kafka nach der Mitteilung von Max Brod besonders geliebt haben soll. Flauberts Nichte schreibt in der Einleitung zu seinem Briefwechsel: «Hat er (Flaubert) nicht in seinen letzten Jahren bedauert, daß er nicht die Alltagsstraße gewählt hat? Fast könnte ich es glauben, wenn ich der ergriffenen Worte gedenke, die einmal aus seinen Lippen hervordrangen, als wir längs der Seine heimgingen: wir hatten eine meiner Freundinnen besucht, hatten sie mitten in der Schar ihrer hübschen Kinder gefunden. «Die sind im Rechten» (Ils sont dans le vraie), sagte er und meinte dieses ehrbare, gute Familienheim damit.»
In Kafkas Romanen liegt ein Epos der Einsamkeit, des hilflosen Ausgeliefertseins des einzelnen in dieser fremden und rätselhaften Welt. Es ist deshalb wegweisend, weil es die Situation des Menschen — anhand des Menschen unserer Zeit — aufzeigt. Kafka begleitet den Menschen bis in seine tiefsten Abgründe hinab, und er steigt mit ihm bis zu den höchsten Höhen seiner Hoffnung. Er scheut sich nicht davor, der Verzweiflung ins Auge zu sehen, und es gibt kein Gespenst der Angst und des Kummers, das er nicht beschworen hätte. Dort, wo «der Mensch in seiner Qual verstummt», gibt Kafka ihm die Worte, «zu sagen, was er leidet». Darum sprechen Kafkas Romane zur Gegenwart, sprechen für die Gegenwart, und dies auch im Sinne einer Fürsprache, einer Verteidigung, in der sich das gegenwärtige Menschentum und seine Epoche rehabilitieren.
Das Kennzeichen der Neuzeit ist, daß in ihr die religiösen Fundamente ihre Tragfähigkeit verloren. Es ereignete sich, in den Worten Nietzsches, der «Tod Gottes». Dogmen, Glaubenswahrheiten und göttliche Gebote sind zutiefst fragwürdig geworden. Der Mensch steht wieder unter freiem Himmel, und erfährt — insofern Gott nicht mehr existiert — die ungeheure Bedeutung der Erde und des Mitmenschen. Wenn es weder göttliche Vorsehung noch göttliche Wahrheiten gibt, dann ist es jedem Menschen überlassen, sein Schicksal zu gestalten, und das Schicksal des einzelnen wird abhängen von der Wahrheit, auf die seine Wahl fällt. Im Bewußtsein dieser Freiheit erkennt der Mensch auch seine Verantwortlichkeit für sich, seine Mitmenschen und seine Zukunft. Ratlos in diese rätselhafte Welt hinaushorchend, muß er suchen und streben, sich der Wahrheit anzunähern und den Weg zum Schloß — zu seinem Schloß — zu finden. Hierbei ist es unerläßlich, der Absurdität des Menschenlebens zu begegnen.
Da das Gute, das Wahre und das Schöne nicht einfach einen «Himmel der Werte» ausmachen, der den Gang des tatsächlichen Geschehens bestimmt, sondern in ihrer Verwirklichung gänzlich vom Menschen, von jedem einzelnen, abhängen, steht der Mensch im tragischen Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Er wird nicht im Schloß geboren, sondern muß — durch das Dorf — zu ihm hinstreben, hoffend oder verzweifelnd in einem illusionslosen Universum.