Friedrich Liebling: Geleitwort zum Buch Grosse Pädagogen
Josef Rattner: Grosse Pädagogen. Geleitwort von Friedrich Liebling (Zürich 1956). München: Ernst Reinhardt
Friedrich Liebling, einer der grossen Psychologen und Pädagogen des 20. Jahrhunderts, legt dieses Buch mit folgendem Schlusswort in unser aller Hände:
«Der große Vorzug dieses Buches besteht darin, daß es in konzcntrierter Form die Gedankenwelt der hervorragendsten pädagogischen Schriftsteller zur Darstellung bringt: Ein lobens- und dankenswertes Unternehmen, das vor allem diejenigen zu schätzen wissen werden, denen es nicht möglich ist, die umfangreichen Werke dieser Autoren selbst zu lesen; viele aber werden durch die vorliegenden Essays zu einem vertieften Studium der Klassiker der Pädagogik angeregt werden. Das Buch gehört in die Hände aller, die an den Problemen der Erziehung Anteil nehmen»
ZUM GELEIT
Unter dem Einfluß der Tiefenpsychologie hat der Erziehungsgedanke in unserem Jahrhundert einen entscheidenden Aufschwung genommen. Die Entdeckungen von Sigmund Freud und Alfred Adler, durch die erst die moderne Seelenkunde für die ärztliche Therapie, Menschenkenntnis und erzieherische Praxis bedeutsam wurde, haben das Fundament zu einem neuen Verständnis des menschlichen Seelenlebens gelegt.
Auf Grund ticfenpsychologischer Befunde wissen wir heute von der Tragweite der Kindheitserlebnisse für die spätere Ausgestaltung von Charakter, Intelligenz und Lebensführung; in Leben und Erlebnis während der Kindheit wurde der schicksalhafte Faktor erkannt, der Glück und Produktivität des Einzelnen wie der Gesamtheit bestimmend beeinflußt.
Die von der Psychoanalyse und der Individualpsychologie aufgezeigten Zusammenhänge zwischen falschen Erziehungsmaßnahmen und daraus resultierender Nervosität, Neurose und Kriminalität bewiesen gleichsam mit mikroskopischer Schärfe die Wichtigkeit einer dem kindlichen Seelenleben angepaßten Erziehung.
Die Schule Alfred Adlers hat hier bahnbrechend gewirkt. Sie hat nicht nur die Fehler der traditionellen erzieherischen Methoden systematisch aufgedeckt, sondern auch selber in Theorie und Praxis neue Wege gewiesen, auf denen Elternhaus und Schule eine von der Vergangenheit kaum geahnte segensreiche Wirksamkeit zu entfalten vermögen.
Das Eindringen der Individualpsychologie in die pädagogische Praxis ist ein Prozeß, der bereits im Gang ist; in Zukunft wird jedoch noch ein großes Stück Arbeit zu leisten sein, bis die psychologischen Erkenntnisse in einem solchen Maße Allgemeingut geworden sind, daß sie jedem Erzieher mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zu eigen sein werden.
Die Tiefenpsychologie nötigt uns, manche überlieferte Auffassung über das Wesen der kindlichen Seele aufzugeben, um sie durch bessere und stichhaltigere Erkenntnis zu ersetzen. Von manchem Vorurteil, das im Laufe der Jahrhunderte den Charakter der Ehrwürdigkeit angenommen hat, müssen wir uns trennen.
Die individualpsychologische Betrachtungsweise lehrt uns, die Persönlichkeit des Kindes als einen Eigenwert zu achten; die kindliche Persönlichkeit kann sich aber nur dann entfalten, wenn die Erziehung sich vor allem jener Formen enthält, die nachweisbar «neurotisierend» sind: Über die verhängnisvolle Nachwirkung von verwöhnender, verzärtelnder, strenger, harter, autoritärer Erziehung gibt uns die tiefenpsychologische Kasuistik umfassenden Aufschluß.
Falsche Erziehung prägt charakterliche Fehlhaltungen, welche die Einfügung des Kindes und des späteren Erwachsenen in die mitmenschliche Gemeinschaft erschweren oder verunmöglichen; die Irrtümer der Erzieher «produzieren» Trotz und Angst des Kindes, kindliche Aggressivität, und bereiten so die Entwicklung zum asozialen Menschentypus vor, der sich entweder «neurotisch» von Arbeit und Mitmenschlichkeit ausschließt oder sich kriminell gegen den als feindlich empfundenen Sozialkörper vergeht.
Die Lebensgeschichte seelisch irritierter Menschen stellt der traditionellen Erziehungsweise kein gutes Zeugnis aus; die chaotischen Zustände innerhalb der gegenwärtigen Kultur geben uns ein Weiteres zu bedenken, indem der von der Erziehung geprägte Mensch in Politik, Wirtschaft und Sozialleben jene Rolle spielt, zu der ihn die Erziehung in seinen Kindheitstagen vorbereitet hat. Der Mangel an Gemeinschaftsgefühl und sozialer Verbundenheit in den größeren sozialen Zusammenhängen, Krieg, Diktatur und Wirtschaftskrisen zeigen uns, daß die bisherige Erziehung in erschreckender Weise versagt hat.
Der Charakter des Menschen ist nicht angeboren
Frühere Jahrhunderte haben sich ihre erzieherische Aufgabe etwas zu leicht vorgestellt: Man glaubte, daß der Charakter des Kindes bereits von Geburt an geprägt sei; Eltern und Erzieher waren der Meinung, daß es zur Ausübung ihres Amtes keiner besonderen Kenntnisse bedürfe, sondern daß der sogenannte «gesunde Menschenverstand» hierzu genügen müsse. Wir wissen heute, daß der Charakter und seine Eigenschaften nicht «angeboren» sind.
Alle seelischen Eigenschaften entwickeln sich erst im Erlebnis der Umwelt, in der sich das Kind vorfindet; an der Beziehung zu seinen Erziehern nimmt das Kind jene Wesenszüge an, die sich an ihm als soziale oder asoziale Eigenschaften erweisen.
Es hat sich gezeigt, daß selbst die intellektuellen und künstlerischen Leistungen wesentlich vom Selbstvertrauen und vom Lebensmut abhängen. Auch hier sind es erzieherische Einflüsse, die entscheiden.
Eine Erziehung, welche die Förderung und Entfaltung des kindlichen Gemeinschaftsgefühls in den Mittelpunkt stellt und unter Verzicht auf Gewalt und autoritäre Unterdrückung sich einzig und allein als «Entwicklungshilfe» begreift, ergibt Resultate in charakterlicher wie intellektueller Hinsicht, die uns erst die Möglichkeiten einer von Vorurteilen befreiten Erziehungsweise in ein rechtes Licht rücken.
Die Überwindung des «Vererbungswahnes» und der Erziehung durch «Zuckerbrot und Peitsche» wird erst das «Jahrhundert des Kindes» eröffnen, von dem Ellen Key schon vor einigen Jahrzehnten geschrieben hat.
Der Umstand, daß die tiefenpsychologischen Einsichten noch relativ jung sind, macht es manchem schwer, sie sich für die erzieherische Praxis anzueignen. Der Mensch ist der Gewohnheit und dem Herkommen verschrieben. Aber es ist eigentlich unrichtig, wenn man die tiefenpsychologische Erziehung «neu» nennt und daraus etwa den Grund ableitet, sie skeptisch zu betrachten.
Ein Studium der großen pädagogischen Autoren der Vergangenheit tut kund, daß alles, was moderne wissenschaftliche Forschung zwingend darlegt, von den Dichtern und Denkern seit dem Altertum bereits ahnend vorweggenommen wurde.
Es besteht eine bewundernswürdige Tradition erzieherischen Denkens seit den Anfängen des Abendlandes: Vor allem vom Humanismus bis zur Klassik haben uns große Erzieher und Menschenkenner in ihren Werken ein Maß von Erziehungsweisheit hinterlassen, das leider bis zum heutigen Tag noch kaum ausgeschöpft ist. Die Tiefenpsychologie lehrt uns nun, den Wert dieser historischen Erziehungsschriften zu erkennen.
Im Lichte moderner psychologischer Erkenntnis werden wir uns erst der Leistungen der Bahnbrecher der neueren Pädagogik bewußt; es gibt kaum eine bessere Bestätigung, die die tiefenpsychologische Erziehung finden könnte, als der Hinweis, daß sie Namen wie Erasmus, Montaigne, Vives, Comenius, Kant, Goethe, Jean Paul usw. zu ihren Vorläufern zählen darf.
Der Verfasser des vorliegenden Buches ist Erziehungsberater und Mitarbeiter an einer Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle; er hat seine Arbeit nicht als theoretische Studie unternommen, sondern er wollte die Geschichte in den Dienst der Gegenwart und Zukunft – d.h. ihrer erzieherischen Aufgabe – stellen.
Es ist ihm in hohem Maße gelungen, die pädagogischen Lehren der Klassiker des Erziehungsgedankens sachlich und lebensnah darzustellen; der Leser gewinnt bei der Lektüre die Überzeugung von Größe und Verantwortlichkeit der erzieherischen Aufgabe und wird bestärkt in einem erzieherischen Ethos, das für den Umgang mit der Jugend unerläßlich ist.
Der große Vorzug dieses Buches besteht darin, daß es in konzentrierter Form die Gedankenwelt der hervorragendsten pädagogischen Schriftsteller zur Darstellung bringt: Ein lobens- und dankenswertes Unternehmen, das vor allem diejenigen zu schätzen wissen werden, denen es nicht möglich ist, die umfangreichen Werke dieser Autoren selbst zu lesen; viele aber werden durch die vorliegenden Essays zu einem vertieften Studium der Klassiker der Pädagogik angeregt werden. Das Buch gehört in die Hände aller, die an den Problemen der Erziehung Anteil nehmen.
Zürich, April 1956. Friedrich Liebling
Friedrich Liebling
Friedrich Liebling (1893 bis 1982) war ein Psychologe aus der Wiener Schule für Tiefenpsychologie. Er gründete und leitete bis zu seinem Tod die Psychologische Lehr- und Beratungsstelle in Zürich.
Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling
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