Brandaktuell: Existentialphilosophie und Sozialismus

(Red.) Das Thema Existentialphilosophie ist brandaktuell - nicht nur weil die Rezeption von Martin Heideggers Denken im modernen Russland und in China hochgeschätzt ist. Die Fragen der Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen und seine bewusste Gemeinschaftsbildung sind Bausteine für eine neue Souveränität nicht nur unserer westlichen Vasallen-Staaten, sondern auch für den Kampf um die eigene persönliche Freiheit. Friedrich Liebling alias Polybios macht dem Leser hier die schwierige Terminologie Heideggers verständlich und gleichzeitig räumt er die Verleumdung aus, Martin Heidegger sei ein Wasserträger des Nationalsozialismus gewesen. Vielmehr ist er ein Vertreter eines neuen Humanismus: Wer wahrhaftig seine eigene Freiheit will, muss auch die Freiheit der anderen wollen. Das ist der tiefste Sinn, den wir unserer Existenz zu geben vermögen. (am)
Unter den geistigen Strömungen der Gegenwart steht vor allem jene Lehre im Brennpunkt des allgemeinen Interesses, die den Namen «Existentialismus» trägt. In philosophischen, psychologischen und soziologischen Auseinandersetzungen treten immer wieder existentialistische Gedankengänge auf. Selten jedoch gibt man sich genaue Rechenschaft über den Gesamtcharakter dieser Philosophie, die zu den repräsentativsten Erscheinungen unserer Epoche gehört. Oberflächliche Betrachter begnügen sich mit einem Wust von Schlagworten, die die Existentialphilosophie mit Modeereignissen verwechseln. Man wird dem Existentialismus nicht gerecht, wenn man ihn für gelegentliche Mißbräuche verantwortlich machen will, die sich in unsachlicher Weise seines Titels bedienen. Der Existentialismus ist eine strenge Fachphilosophie, die dem philosophischen Laien überhaupt nicht zugänglich ist. Das Studium der existentialphilosophischen Konzeptionen stellt derart hohe Anforderungen, daß nur gründliche Kenner der Philosophiegeschichte sie zu bewältigen vermögen.
Der Sozialismus nimmt regen Anteil an den Entwicklungen der modernen Philosophie. Selber eine sozialwirtschaftliche Theorie und ein gesellschaftliches Ideal, muß der Sozialismus ständig mit den Neuerungen in der Philosophie Schritt zu halten versuchen. Die wissenschaftliche Erforschung und Deutung der sozialen Tatsachen sieht sich genötigt, ihre philosophischen Grundlagen unablässig zu revidieren und zu erweitern. Der Fortschritt des Sozialismus wird wesentlich davon abhängen, ob die sozialistischen Bestrebungen unerschütterlich in der Philosophie verankert werden, so daß sie dem Menschen Richtschnur und Ziel für das soziale Denken und Handeln bieten können. Die sozialistische Bewegung ist von der Absicht geleitet, ihren Trägern ein ganzheitliches Weltbild zu vermitteln. Damit wird es ihre Aufgabe, ihre eigene Problematik stets philosophisch abzuklären. Es braucht nicht betont zu werden, daß es hierin keinen Abschluß gibt, weil an ein «endgültiges» Philosophieren gar nicht gedacht werden kann.
Die Auseinandersetzung mit der Existentialphilosophie gehört zu den entscheidendsten Anliegen des modernen Sozialismus. Kann der Existentialismus die sozialistische Theorie erneuern? Können aus ihm für den Sozialismus fruchtbare Anregungen hervorgehen? Diesen Fragen müssen eingehende Untersuchungen gewidmet werden. Eine vergleichende Gegenüberstellung beider Lehren wird die Möglichkeit schaffen, über die Vereinbarkeit von Existentialphilosophie und Sozialismus zu entscheiden. Die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens lassen sich im Rahmen eines Aufsatzes nicht vollständig auflösen. Darum wäre es verfehlt, auf alle Einzelheiten dieses Problems Bezug nehmen zu wollen. Zwangsläufig ergibt sich die Notwendigkeit, sich auf die Hauptpunkte des Fragenkomplexes zu beschränken. Naturgemäß muß dabei der existentialistische Standpunkt umfassender dargestellt werden als die sozialistischen Theorien, die als bekannt vorausgesetzt werden können.
Der Begründer der Existentialphilosophie ist der deutsche Philosoph Martin Heidegger. Im Jahre 1927 erschien sein berühmt gewordenes Werk «Sein und Zeit», welches die erste und fundamentale Zusammenfassung der existentialistischen Anschauungen enthält. Heideggers Gedanken faßten rasch Boden und verbreiteten sich in kurzer Zeit über den ganzen Kontinent. In Frankreich ist Jean Paul Sartre der bedeutendste Vertreter der Existentialphilosophie; mit dem Buch «L'Etre et le Neant» (Das Sein und das Nichts) hat Sartre für den französischen Existentialismus die theoretische Ausgangsbasis geschaffen. Doch die existentialistischen Lehren blieben nicht nur ein europäisches Geistesgut. Auch auf den andern Kontinenten fanden sie Verbreitung und rege Anteilnahme.
Die Unterscheidung von atheistischem und christlichem Existentialismus
Wenn man von Existentialphilosophie spricht, so darf man nicht außer acht lassen, daß es zwei Richtungen gibt, die voneinander weitgehend abweichen. Man unterscheidet zwischen atheistischem und christlichem Existentialismus.
Der erstere wird durch Heidegger und Sartre vertreten. Heidegger hat zwar im Gegensatz zu dem militanteren Sartre nie direkt gegen die Religion Stellung genommen. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, daß seine Auffassung für einen Gott keinen Raum bietet, und daß es sich um eine Lehre der «Diesseitigkeit» handelt.
Die christliche Existentialphilosophie knüpft insbesondere an die Namen von Karl Jaspers und Gabriel Marcel an. Diese Bestrebungen beabsichtigen, die Sinndeutung der menschlichen Existenz mit der christlichen Religiosität in Einklang zu bringen. Ähnliche Tendenzen zeigen sich auch in der jüdischen Religion. Die Philosophie eines Martin Buber müßte etwa als jüdischer Existentialismus charakterisiert werden.
Das Bindeglied zwischen christlicher und atheistischer Existentialphilosophie, die durch eine tiefe Kluft voneinander geschieden sind, stellt der gemeinsame Vorläufer und Ahne Sören Kierkegaard (1813—1855) dar. Dieser dänische Theologe hat die existentialistischen Grundbegriffe geschaffen. «Existenz» zum Beispiel bedeutete für ihn das Sein des einzelnen Menschen in seinem Verhältnis zum Ewigen. Die meisten Themata, die bei Heidegger, Jaspers usw. behandelt werden, sind von Kierkegaard zumindest angedeutet, wenn nicht sorgfältig analysiert worden.
Ein weiterer Bahnbrecher für die Existentialphilosophie ist Friedrich Nietzsche. Nietzsche kämpfte ähnlich wie Kierkegaard gegen die Verlogenheit der bürgerlichen Moral. Während der letztere sich mit heftigen Angriffen gegen das liberale Christentum seiner Zeit begnügte, sagte Nietzsche dem Christentum überhaupt den unerbittlichen Kampf an. Er schleuderte ihm die Anklage entgegen, daß es die Werte des Lebens verleumdet und die natürlichen Lebenskräfte geschwächt habe. Schonungslos wies er nach, wie Neid- und Haßgefühle der christlichen Moral, die bei Kierkegaard unangetastet bleibt, Pate gestanden hatten.
Ein Drittes hingegen verbindet wieder die großen «Einsamen», die von ihrem Jahrhundert mit wenig rühmlicher Geschlossenheit verkannt wurden. Beide wandten sich von den idealistischen Systemen ab, denen sie blutleere Konstruktion vorwarfen. Das Leben und die menschliche Existenz sind wichtiger als abstrakte Spekulationen. Sowohl Kierkegaard wie Nietzsche konzentrieren ihre Bemühungen bereits auf die existentiellen Probleme.
Das Problem des Menschen steht im Mittelpunkt
Geht man weiter zurück in der Philosophiegeschichte, so stößt man auf eine Reihe von Denkern, die durch die Art ihres Philosophierens gleichfalls zu Ahnen der Existentialphilosophie werden. Es handelt sich mehr oder weniger eindeutig um jene Philosophen, die das Problem des Menschen in den Mittelpunkt der philosophischen Problematik zu rücken versuchten. In diesem Sinn kann man mit einiger Berechtigung als «Vorläufer» des Existentialismus nennen: Sokrates, die Stoiker, Augustin, Pascal, Maine de Biran, die phänomenologische Schule, die Lebensphilosophie usw.
Der gemeinsame Wesenszug der existentialistischen Philosophien ist der hohe Rang, den sie dem Problem des Menschen gegenüber den Fragen der Natur und des Geistes einzuräumen pflegen.
Heidegger geht wohl von einer metaphysischen Fragestellung aus. Er will den Sinn des Seins erkennen. Zu diesem Zweck muß aber vorerst der Fragende selbst, nämlich der Mensch, erkannt werden. «Sein und Zeit» befaßt sich deshalb weit mehr mit der Analyse des Menschseins als mit den Problemen des Seins und der Zeit überhaupt. Heidegger setzte unter dieses Buch den Untertitel «Erste Hälfte». Damit wollte er andeuten, daß in einem zweiten Band die metaphysischen Probleme intensiver ausgearbeitet würden. Diese Ergänzung ist aber bis heute ausgeblieben*. Ungeachtet dieses Umstandes kann man aber die Heideggersche Philosophie wie ein Ganzes betrachten, das in sich geschlossen ist.
Was ist der Mensch im Lichte der Existentialphilosophie? Es fehlt nicht an traditionellen Bestimmungen dessen, was der Mensch sei. Animal rationale (mit Verstand begabtes Tier), Geschöpf eines Gottes, Bürger zweier Welten (Kant), höchst entwickeltes Tier (Abstammungstheorien) sind die überlieferten Definitionen des Menschen. Die Existentialphilosophie ist nicht geneigt, sich mit einem knappen, aber nichtssagenden Begriff zufriedenzugeben. Das Wesen Mensch besteht aus viel mehr Rätseln und Geheimnissen, als naive Theorien anerkennen und wahrhaben wollen.
Um dieser Probleme überhaupt habhaft zu werden, muß man ein Verfahren anwenden, das Kant seinerzeit berühmt gemacht hatte. Kant entdeckte, daß die Erscheinungen der Außenwelt vom menschlichen Subjekt zum Teil durch subjektiven Eingriff erzeugt werden. Unser Verstand arbeitet mit Hilfsmitteln, sogenannten Kategorien, die uns ein Verständnis der Erscheinungswelt ermöglichen. Heidegger hebt nun hervor, daß es nicht nur solche Kategorien gibt, die der Mensch im Hinblick auf die Naturerkenntnis verwenden muß. Wenn der Mensch sich selbst ergründen will, bedarf er gleichfalls derartiger Hilfsmittel. Diese auf den Menschen bezogenen Kategorien heißen «Existentiale» (darum Existentialphilosophie!), was etwa «Grundverfassungen der menschlichen Existenz» bedeutet.
Grundverfassungen des menschlichen Daseins
Solche Grundverfassungen des Daseins sind: In-der-Welt-Sein, Mitdasein, Mitsein, Selbstsein, das «Man», das In-Sein, die Sorge, die Angst und die Zeitlichkeit.
Diese existentialphilosophischen Wortprägungen scheinen auf den ersten Blick hin unverständlich. Man darf sich jedoch durch die komplizierten Begriffe, die schwer formulierbaren Tatsachen entsprechen, nicht verwirren lassen. Es kann leicht gezeigt werden, daß hinter den seltsam klingenden Ausdrücken vertraute und jedermann bekannte Probleme verborgen sind. Da die Existentialphilosophie Wesenszüge des menschlichen Daseins schildern will, die jenseits des Bewußtseins liegen, muß sie auch zu neuartigen Formulierungen gelangen. Die bisherige Philosophie hat diese existentiellen Fragen größtenteils außer acht gelassen, so daß noch gar kein begriffliches Material besteht, um Tatbestände sinnvoll benennen zu können.
Daß der Mensch „in der Welt“ sei, scheint eine einfache Gegebenheit zu sein, die keiner Feststellung bedürfte. Die Existentialphilosophen behaupten nicht, damit etwas Neues ausgesagt zu haben. Sie betonen lediglich, daß dieses «In-der-Welt-Sein» besonders strukturiert sei. Der Mensch ist nicht in der Welt wie ein Möbel in einem Zimmer — sein In-der-Welt-Sein ist gekennzeichnet durch aktives Zutunhaben mit den Dingen, durch das «Besorgen». Der Mensch hat nicht nur eine Umwelt wie das Tier, das ständig in den Horizont seiner Umgebung eingespannt ist. Rings um ihn weitet sich der Raum über das anschaulich Gegebene hinaus; er hat eine Welt. In dieser Welt ist er vor allem als tätiges Lebewesen. Das Handeln dominiert über das Denken, denn in erster Linie will und muß der Mensch die Gegenstände seiner Welt gebrauchen, das heißt «besorgen».
Faßt man die menschliche Existenz schärfer ins Auge, so erkennt man, daß sie prinzipiell ein «Mitsein» ist. Unser Dasein ist vom Dasein der andern Menschen umgeben. Man könnte diesen Talbestand auch durch das aristotelische «zoon politicon» umschreiben — der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Heidegger will das Leben in der Gemeinschaft nicht abstrakt-spekulativ deuten. Auch in diesem Falle geht er realistisch vor und betont die Bedeutsamkeit der naheliegendsten Probleme. Das Leben mit den andern Menschen spielt sich vor allem in der Atmosphäre der «Alltäglichkeit» ab. Im alltäglichen Dasein sind wir selten wir selbst. Unsere individuelle Persönlichkeit kommt im Alltag wenig zur Geltung. Nicht die Individuen treten dabei hervor, sondern etwas anderes — eine kollektive Macht, die existentialphilosophisch das «Man» genannt wird. Dieses ist der Inbegriff aller jener Faktoren, die auf kollektiver Grundlage in Erscheinung treten, und wo die individuelle Verantwortlichkeit und Eigenständigkeit verschwindet. Im alltäglichen Umgang herrscht das ungeschriebene Gesetz: Man tut so, man spricht so, man denkt so… Das selbständige Verstehen fällt hier kaum in Rechnung. Die Menschen verzichten darauf, Subjekte zu sein; dadurch entsteht die Gefahr, daß sie sich zu Maschinen des Soziallebens degradieren lassen. «Gerede, Neugier und Zweideutigkeit» sind typisch für diese Situation. Damit kann sich der Mensch verraten — das Dasein gerät in den Zustand der «Verfallenheit».
Indem wir unser Selbst aufgeben, gelangen wir auf falsche Bahnen und machen uns «schuldig». Diese «Schuld» ist nicht spezifisch ethisch-moralisch gemeint. Man kann niemandem einen Vorwurf dafür machen, daß er sein Selbst verliert und ans Man verfällt. Dennoch bleibt dem sich verlierenden Menschen der Tadel nicht erspart.
Heidegger weist darauf hin, daß aus den Tiefen unseres Daseins selbst der Mensch aus seiner Verlorenheit zu sich selbst zurückgerufen wird. Dieser Rückruf wird durch die Angst eingeleitet. Das gegen sich selbst gleichgültige, verfallene Dasein gibt sich keine Rechenschaft über seine recht fragwürdige Stellung im Weltganzen. Es fürchtet sich wohl vor allerlei Vertröstungen, die es über die Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz hinwegtäuschen. Werden wir uns bewußt, daß wir in jedem Moment ins Nichts hineingeschleudert werden können («Rasch tritt der Tod den Menschen an, es ist ihm keine Frist gegeben...» Schiller), so müssen wir uns auch auf die Wesentlichkeit oder Unwesentlichkeit unseres Daseins besinnen. Deshalb postuliert die Existentialphilosophie, daß erst durch das Gefühl der Angst der Mensch zu einer einheitlichen Persönlichkeit zusammengeschweißt wird. Es handelt sich hier um eine «Grenzsituation«; durch die Angst erhält die Lebenszeit erhöhten Wert, nutzlose Ziele fallen angesichts dieser Ausgesetztheit des Menschen als unbedeutend hinweg — was bleibt, ist wesentliches Dasein: «Selbstsein».
Ähnlich wie die Angst erschließt auch der Tod die Endlichkeit unseres Daseins. Es ist ein Pessimismus, der die Existentialisten veranlaßt, das Dasein als ein «Sein zum Tode» zu charakterisieren. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß mit der Geburt bereits immer schon die unmittelbare Möglichkeit des Todes in unser Leben eintritt. Dies soll uns ebensowenig wie das Erleben der Angst davon abhalten, unsere Lebenszeit sinnvoll auszunützen. Wir sollen nicht sagen: «Sterben müssen alle», denn dieser Trost ist zu billig. Ich muß dessen eingedenk bleiben, daß ich sterben muß und daß meine Pläne und Möglichkeiten jederzeit durch meinen Tod ein Ende finden können. Naive Kritiker behaupten, daß ein solcher Standpunkt lähmend wirken müsse, indem der Gedanke an den Tod die Lust zum Leben im Keim ersticke. Die Existentialphilosophie meint keineswegs hypochondrische Selbstquälerei, die mit dem Gedanken des Todes spielt, um sich der realen Aufgaben des Lebens zu entziehen. Sie meint jenes tiefe Erlebnis der menschlichen Begrenztheit, das unsere Selbsttäuschungen hinwegfegt und lediglich unseren echten Wesenskern hervortreibt.
Gewissen führt zur Entschlossenheit
Der Mahnruf, der das Dasein aus der Verfallenheit zu Angst und Todeseinsicht zurückreißt, ist die Stimme des Gewissens. Dieses Gewissen muß im Sinne der Existentialphilosophie, und nicht moralisch, aufgefaßt werden. Es handelt sich hier nicht um «gut und böse». Es ist eine existentielle Angelegenheit, daß den von sich selbst abgeirrten Menschen ein Ruf aus seinem Innern zu erreichen vermag. Vielleicht könnte man populär sagen, daß jeder spürt, wo er sein Selbst verrät. Erkennt er (nicht nur verstandesmäßig!) diese Verfehlung, so fällt er aus dem Himmel seiner Illusionen in die Realität seines eigentlichen Daseins zurück. Nun erst erwächst für ihn die Möglichkeit, sein «Seinkönnen» (existentielle Möglichkeiten) zu bezeugen. Die Auszeichnung einer solchen Existenz ist die Entschlossenheit. Ein solcher Mensch widersteht der Versuchung, sich einfach treiben zu lassen — er «wählt» sich sein Leben selber und realisiert seine Wahl mit dem vollen Einsatz seiner Kräfte.
Zeitlichkeit
Der letzte Sinn unseres Daseins ist in der Zeitlichkeit enthalten. Wir können nichts an unserem Leben grundsätzlich erfassen, wenn wir nicht bedenken, daß wir «zeitlich» sind. Zwischen Geburt und Tod spannt sich der ungewisse Bogen der individuellen Existenz. Wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir gehen. Wir sind einfach «da», wir finden uns gleichsam ein in einer Welt, inmitten von Mitmenschen. Das nennt die Existentialphilosophie das Faktum der «Geworfenheit». Wenn wir nun aber in eine Welt geworfen sind und für eine begrenzte Spanne Zeit existieren, so soll dies ein niemals ruhender Ansporn für ein sinngemäßes, wesentliches Leben sein. Heideggers Lehre wirkt diesbezüglich wie ein Appell zu einer heroischen Existenz. Furchtlos dem Tod ins Auge blicken, auf dem schmalen Grat am Rande des Nichts entschlossen vorangehen und in Verlassenheit Werte setzen — das verlangt die Existentialphilosophie vom Menschen.
Theologie ohne Gott – selbsteigene Verantwortlichkeit
Die Tröstung eines schützenden, helfenden Gottes wird mutig abgelehnt. Der Mensch soll sich zum Herrn seiner Welt machen. Heideggers Anweisung zum Leben ist derart eindringlich, daß man sie auch schon eine «Theologie ohne Gott» genannt hat. Der Mensch wird aufgerufen, sich zum Meister seines Schicksals zu machen. Wenn es eine «Sünde» gibt, so ist es nicht sündhaftes Handeln gegen einen Gott, sondern Schuldigwerden an sich selber. Dies ist die größte Schuld, deren der Mensch teilhaftig werden kann — eine Erkenntnis, die der überlieferten jüdisch-christlichen Moral verschlossen blieb, indem sie das menschliche Handeln auf einen Gott hin verpflichtete und nicht auf die selbsteigene Verantwortlichkeit. Es besteht eine innige Beziehung zwischen dem Ergreifen seiner existentiellen Möglichkeiten und dem sozialen Angepaßtsein.
Keine Verstrickung in den nationalsozialistischen Ungeist
Heideggers Lehre versucht vor allem die prinzipiellen Fragen der menschlichen Existenz zu lösen. Trotz dem eminent lebensnahen Philosophieren hält sich die Heideggersche Existentialphilosophie von der politisch-sozialen Praxis fern. Eine solche Einstellung rührt daher, daß der Begründer dieser Philosophie in politischer Hinsicht wenig Überblick zu gewinnen vermochte, da er sich vollständig den philosophisch-metaphysischen Problemen widmete. Dies ermöglichte auch die bedauerliche Unklarheit, mit der Heidegger sich beinahe in den nationalsozialistischen Ungeist hätte verstricken lassen. Der Zusammenstoß mit dem diktatorischen Regime führte allerdings bald dazu, daß Heidgegger sich distanzierte und seine Lehrtätigkeit in Nazi-Deutschland aufgab. Es braucht wohl nicht hervorgehoben zu werden, daß die politische Unmündigkeit eines Philosophen den Wahrheitsgehalt seiner philosophischen Erkenntnisse nicht unbedingt beeinträchtigen muß. Auch der politisch naivste Denker kann Repräsentant der umwälzendsten Gedanken seiner Zeit sein.
Jean Paul Sartre: Existentialismus ist eine zusammenhängende atheistische Weltanschauung
Jean Paul Sartre, der Schüler Martin Heideggers, hat den Existentialismus von Anbeginn nicht nur als eine rein spekulative Problemstellung aufgefaßt. Bei ihm zeigt sich die starke Neigung, die konkreten Lebenssituationen in die existentialphilosophische Analyse einzubeziehen. Das theoretische Hauptwerk Sartres ist «L'Etre et le Neant». Um seine Auffassungen zu verbreiten, hat Sartre sich nicht gescheut, sich auch «unphilosophischer» Hilfsmittel zur bedienen. In großartiger Vielseitigkeit beleuchtet er als Romancier, Dramatiker, Essayist und Filmautor die Konsequenzen des Existentialismus. Indem er mit gleichbleibendem Interesse politische, soziale und künstlerische Fragen zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden weiß, gestaltet er die Existentialphilosophie zu einer Lebensanschauung, die in einer fundamentalen Weltbetrachtung verankert ist. Das farbenreiche Fackelwerk seines Denkens hat viel dazu beigetragen, der neuen Philosophie weite Kreise zu erschließen. Infolge der zahlreichen Anregungen, die von Sartre ausgingen, glaubt man ihm heute schon den ruhmreichen Titel eines «Voltaire unseres Jahrhunderts» zuschreiben zu dürfen.
Sartre verläßt die vorsichtige Position Heideggers und erklärt ohne Rückhalt, daß er unter Existentialismus eine zusammenhängende atheistische Weltanschauung verstehe. Unter der Voraussetzung, daß es keinen Gott gibt, muß der Sinn des Menschseins neu bestimmt werden. Nun kann man aber den Menschen gar nicht definieren, weil er zuerst existiert und sich dann durch seine eigenen Handlungen und Taten zu etwas Faßbarem macht. Der Mensch ist frei, sich zu dem zu machen, was er plant. «L'homme est ce qu'il se fait!» Da der Mensch durch Wahl und Entschluß sein Schicksal wählt, ist er weitgehend für sein Dasein verantwortlich.
Wir sind für alle Menschen verantwortlich
Jede seiner Handlungen erschöpft sich jedoch nicht im Mikrokosmos seiner eigenen Existenz — sie weist über ihn hinaus in die mitmenschliche Welt. Es gibt schlechterdings keine folgenlosen Taten und Entschlüsse; darum sind wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für alle Menschen verantwortlich. Dessen müssen wir uns bewußt bleiben, wenn wir uns nicht über unsere tatsächliche Situation in der mitmenschlichen Welt hinwegtäuschen wollen. Indem wir unser eigenes Leben planen, konzipieren wir zugleich den Aufbau der Menschengemeinschaft, d.h. in unserem Streben liegt stets eine Stellungnahme zur Gesellschaft in ihrer jeweiligen Form. Weil die heutige Gesellschaftsordnung eine ungerechte ist, steht jeder vor der Frage, ob er sich auf die Seite der Unterdrücker oder der Unterdrückten stellen soll. Sartre läßt uns nicht im Zweifel, daß er selber gewillt ist, die Partei der Benachteiligten zu ergreifen. Wer dies nicht tut, kann nie indifferent sein — schon der Umstand, daß er die ungerechten Zustände seiner Zeit übersieht, reiht ihn ein in die Front der herrschenden Klassen, die durch wirtschaftliche Ausbeutung und soziale Bevorrechtung die Menschen unterjochen.
Der Existentialismus ist eine Lehre, die den Menschen zur Tat antreiben will. Der Mensch soll seine Situation, die «condition humaine», erkennen und handelnd über seine Grenzen hinauszustreben trachten. Wie dies zu geschehen hat, kann niemals allgemeingültig formuliert werden. Die geschichtlichen und individuellen Bedingungen dürfen nicht auf einen einzigen Nenner gebracht werden. Deshalb wird es auch keine existentialistische Moral geben, die allgemeine Sätze im Sinne kategorischer Imperative aufstellt. Was man aber von jedem Einzelnen verlangen kann und muß, ist, daß er die Möglichkeiten seiner Existenz lebt und verwirklicht. Bin ich zum Beispiel Arbeiter und schlage ich mich auf die Seite der Gegner des Sozialismus, so mache ich mich einer Verkennung meiner existentiellen Situation schuldig. Eine solche Selbsttäuschung wäre im existentialistischen Sinne «moralische Schuld», besser widersinnige Haltung im gemeinschaftlichen Leben.
Wer wahrhaftig seine eigene Freiheit will, muß auch die Freiheit der anderen wollen. Das ist der tiefste Sinn, den wir unserer Existenz zu geben vermögen. Infolge dieser Sinndeutung der menschlichen Existenz ist der Existentialismus seinem Wesen nach durchaus human — er ist ein neuer Humanismus. Dieser vergöttert den Menschen nicht, sondern begnügt sich damit, ihm seine Situation und Aufgabe im Kosmos und in der Menschenwelt zuzuweisen.
«Ich bin nicht mehr verwendungsfähig!»
Sartres literarische Bemühungen verdeutlichen noch diese Tendenz. Als Beispiel sei kurz auf das Schauspiel «Les mains sales» («Die schmutzigen Hände») Bezug genommen. Die Grundmotive dieses Stückes sind: Politik, Individualität und Verantwortlichkeiten. In einem von den Deutschen besetzten Land versuchte die Kommunistische Partei, die Befreiung vorzubereiten. Einer ihrer Führer, namens Hoederer, verfährt dabei in souveräner Weise, indem er für den späteren Sieg der Partei mehr wagt, als die Mitglieder der Parteileitung beabsichtigen. Deshalb soll ihn ein Attentat aus dem Wege räumen. Ein junger Mann, der sich aus unklaren Gefühlen der Kommunistischen Partei angeschlossen hat, übernimmt den «Auftrag». Von der überragenden Persönlichkeit Hoederers, den er hierauf kennenlernt, überwältigt, vermag er den Anschlag nicht auszuführen. Erst der kleinliche Affekt der Eifersucht drängt ihn schließlich doch zur Ausführung des Mordes. — Nach der Gefängnishaft kehrt Hugo, der Attentäter, zurück. Er muß erfahren, daß die Partei nun dem toten Hoederer recht gibt und dessen Politik übernommen hat. Man will nun ihn, den Mitwisser des Attentats beseitigen. Eine Freundin sucht ihn dadurch zu retten, daß sie Parteiführern seine weitere «Verwendungsfähigkeit» klarmachen will. In diesem Moment aber, wo der Sartresche Mensch (Hugo) die katastrophale Auswirkung einer absoluten Parteimaschinerie erkennt, verzichtet er auf sein Leben, um seine Freiheit nicht zu besudeln. «Ich bin nicht mehr verwendungsfähig!» Eine Partei kann mir nicht die Verantwortung für mein politisches Handeln abnehmen. Letzten Endes bin ich es, der die Last meiner Entschlüsse und Handlungen zu tragen hat. Der Sartresche Mensch führt nicht die Politik «seiner Partei», sondern seine eigene — und indem ihn seine politischen Ziele mit einer Partei verwandt erscheinen lassen, gliedert er sich in deren Reihen ein. Dabei verzichtet er jedoch keineswegs auf seine Individualität, auf sein Ich; er weiß sich verantwortlich für alles, was jene Partei tut, der er seinen Namen zur Verfügung gestellt hat.
«Les mains sales» ist für Sartres politische Einstellung besonders kennzeichnend, weil darin bereits die Abwendung von kommunistischen Tendenzen, mit denen sich Sartre eine Zeitlang identifiziert hatte, zum Ausdruck kommt. In «Ist der Existentialismus ein Humanismus?» wird zwischen sozialistischer und kommunistischer Auffassung noch keine deutliche Trennung durchgeführt. Erst später festigte sich Sartres Standpunkt, indem er sich zu einem «freiheitlichen Sozialismus» bekennt.
Vereinbarkeit von existentialistischem und sozialistischem Gedankengut?
Wie steht es nun um die Vereinbarkeit von existentialistischem und sozialistischem Gedankengut? Bei genauer Prüfung dieser Frage kann man sich der Einsicht nicht verschließen, daß sich zahlreiche Brücken zwischen beiden Auffassungen schlagen lassen. Beide Lehren beabsichtigen, den Menschen zum Mittelpunkt des Weltgeschehens zu machen. Es sind verschiedene Wege, die zu den gleichen Zielen führen.
Der Sozialismus als Gesellschaftsideal strebt einen Zustand an, in dem die (äußere) Freiheit aller gewährleistet ist. Der Existentialismus weist auf die unveräußerliche (innere) Freiheit des Menschen hin, in einer gegebenen geschichtlichen Situation den Fortschritt zu realisieren. Die Gefahr der «Selbstentfremdung», die unter anderem ein bedeutsames Motiv auch der Marxschen Schriften ist, tritt in den existential-philosophischen Werken durch eine fundamental angelegte Analyse hervor. Der Mensch kann sich verlieren an die Mechanismen der von ihm eingeleiteten Produktion, ebenso wie er sich an die «Alltäglichkeit» des Daseins preiszugeben vermag. Dies aber ist die ursprünglichste «Sünde», gleichsam der «Sündenfall», indem sich der Mensch seiner Subjekthaftigkeit entledigt.
Der Sozialismus will die Entrechteten zum Kampf um ihr Recht führen; er will die Ausgebeuteten zu besitzenden Teilhabern an der Produktion machen; er will den bisherigen Sklaven der Maschine zu ihrem Herrn machen. Um dieses Ziel erreichen zu können, müssen sich die Einzelnen auf ihre Subjekthaftigkeit besinnen. Die Geschichte ist nicht lediglich ein Geschehen — sie wird vollzogen durch unsere Entschlüsse, Taten und Handlungen. Im Grunde liegt das Schicksal der Menschheit im individuellen Entscheid jedes Einzelnen, sei er auch an der unscheinbarsten Stelle des Geschichtsprozesses eingeordnet. Wer frei sein will, muß auch die Freiheit der anderen bejahen. Die Verwirklichung der eigenen Freiheit baut sich durch soziale Handlungen auf; Menschsein und Freisein bedeutet, den sozialen Fortschritt zu wollen, d.h. über die heutige Gesellschaftsordnung hinausstreben.
Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen
Die Frage der Determination des Menschen durch ökonomische und soziale Faktoren, die dem von Marx und Engels inaugurierten «Wissenschaftlichen Sozialismus» zugrunde liegt, müßte im Lichte des Existentialismus eine andere Bestimmung erfahren. Der Hegel-Schüler Marx gelangte zur Formulierung, daß «das Sein das Bewußtsein determiniere». Spätere Betrachtungen brachten den Hinweis, daß diese These nicht einseitig verstanden werden dürfe. Auch das Bewußtsein bestimmt das Sein, und es handelt sich um ein dialektisches Verhältnis, in dem Sein und Bewußtsein einander polar entgegenwirken und voneinander abhängig sind.
Der Existentialismus ist geneigt, den Hauptakzent auf die Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen zu legen. Dies ist nicht mit dem Primat der Bewußtheit identisch, denn die Wahlmöglichkeit, von der die Existentialisten sprechen, ist kein Denkenkönnen, sondern ein Handelnkönnen. Trotz unzähligen Schranken, die unsere Situation in der Welt und in der Geschichte begrenzen, weiß sich dieses Handeln frei, indem es sich über die Beschränktheit des Gegebenen hinausschwingt in den Raum unberechenbarer Möglichkeiten. Demgemäß enthält der Existentialismus aktivistische Tendenzen — er ist eine Lehre der Tat.
Man hat dem Existentialismus zu Unrecht vorgeworfen, daß er die Menschen in die Resignation treibe und daß er sie zuletzt der Verzweiflung und Angst überantworte. Es gibt kaum eine Lehre, die optimistischer und illusionsloser wäre als der Existentialismus. Da er die Individuen stets zum Handeln aufruft, liegt ihm nichts ferner, als eine resignierende Geisteshaltung zu befürworten. Es ist richtig, daß die Existentialisten — und dies mit Vorbedacht — die Verzweiflung und Verlassenheit des Menschen hervorheben. In der Tat kann man die «condition humaine» nicht anders charakterisieren, als daß man eines ihrer Grundgefühle die Verzweiflung nennt. Dabei soll man aber nicht stehenbleiben. Wer echt und zutiefst verzweifelt, wird auch, wenn er darüber hinwegkommt, mit dem vollen Einsatz seiner Persönlichkeit handeln können.
Bewußte Gemeinschaftsbildung
Ein anderes Argument, das insbesondere von konservativer Seite gegen den Existentialismus ins Feld geführt wird, besagt, daß er das Individuum isoliere und die Gemeinschaftsbindungen auflösen wolle. Hier wird mit Absicht ein wahrer Sachverhalt entstellt. Es entspricht der Wahrheit, daß der Existentialismus dem Einzelnen vor allem dazu verhelfen will, sich selbst zu finden. Zu diesem Zwecke mag eine vorübergehende Ablösung von der Kollektivität unumgänglich sein. Wo dieser Prozeß nicht stattgefunden hat, ist bewußte Gemeinschaftsbildung überhaupt unmöglich. Es kann dann nur ein unbewußtes Aufgehen in einer Gesellschaftsform sein, so daß die Gemeinschaft alles ist und das Individuum nichts. Dieser Zustand wird am besten durch die Masse repräsentiert. Wer den Massenmenschen will, wird davor warnen, das Individuum je aus dem gesellschaftlichen Verband herauszureißen, damit es nicht zum Bewußtsein seiner selbst komme. Gerade dies aber strebt der Existentialismus an. Der zur Selbstbewußtheit gelangte Mensch vermag erst echte Bindungen einzugehen. Da er sich selbst gewonnen hat, kann er über sich verfügen und vermag sein Ich mit einem Wert, Ideal und Ziel zu verbinden.
Auch der Sozialismus hat kein wichtigeres Anliegen, als die Masse zu verringern und an deren Stelle auf Persönlichkeiten gründende Gemeinschaften zu setzen. Wenn auch die politische Praxis Massenaktionen erfordert, darf man sich nicht täuschen, daß die Träger des Ideals die Einzelnen sind. Natürlich soll das Proletariat als Ganzes in die Arena der Weltgeschichte eintreten. Auf dem Schauplatz des gigantischen Ringens kann aber niemals eine zufällig zusammenströmende Vielzahl auf die Dauer ihre Position behaupten. Die Stärke einer erneuernden Bewegung wird bestimmt durch die Zahl zielbewußter Individuen, die gleich einem Gerüst die amorphe Masse zu organisieren und zusammenhalten vermögen. Die Ereignisse der letzten Jahrzehnte haben eindeutig bewiesen, daß große Massenbewegungen in kurzer Zeit aufgelöst werden können. Gerade solche Krisen, die auch dem Sozialismus nicht erspart blieben, lehren eindringlich, daß letzten Endes doch nur die Individuen die Fackelträger der Freiheit und des Fortschritts sind, und daß eine Ideologie, die sich nicht in den Herzen der Individuen zu verankern weiß, früher oder später zum Scheitern verurteilt ist.
Der Kampf für den Sozialismus ist ein Kampf um die eigene Freiheit
Der Sozialismus ist bestrebt, dem Menschen seine gesellschaftliche Grundsituation aufzudecken. Indem er die Struktur des Klassenregimes enthüllt, die wirtschaftliche Ausbeutung und die politisch-soziale Ungerechtigkeit aufweist, ermöglicht er eine klare Einsicht in jenen Teil der «condition humaine», die sozial bedingt ist. Damit ist aber nicht genug getan. Das Indviduum braucht nicht nur Anleitung für sein soziales Handeln. Es will weiterhin über seine Stellung im Kosmos und in der mitmenschlichen Welt überhaupt Bescheid wissen. Jeder Mensch muß, um leben und handeln zu können, ein Bild des Weltganzen vor Augen haben.
Man geht nicht fehl, wenn man betont, daß die Religionen ehemals dem Menschen ein solches Bild zu bieten hatten. Heute ist dies sicherlich nicht mehr der Fall. Der Sozialismus, der als ganzheitliche Weltschau das Erbe der Religionen antritt, muß in gleicher Weise das Individuum in eine umfassende Totalität eingliedern. Da er die Menschen nicht auf ein Jenseits vertröstet, muß er den Sinn der Diesseitigkeit verständlich machen. Er würde dies nur zur Hälfte tun, wenn er die himmlische Vertröstung zu einer irdischen umwandeln würde, d.h. wenn er die Rechtfertigung des sozialistischen Strebens in eine ungewisse, ferne Zukunft verlegen müßte. Der Sozialismus ist jeweils Aufgabe der Gegenwart, und diejenigen, die ihr Leben für ihn einsetzen und opfern, sollen es nicht um ihrer Enkel willen tun.
Das ist gewiß keine reine Philanthropie, aber um so mehr die ungeteilte Wahrheit. Es muß dem Menschen gezeigt werden, daß er seine Existenz in der heutigen Gesellschaft nur dann richtig versteht, wenn er sich über deren Mangelhaftigkeit Rechenschaft gibt. Die Mangelhaftigkeit der Gesellschaft, in der er lebt, läßt sich nicht von seinem eigenen Ungenügen trennen. Sobald ein Mensch in einer widerrechtlichen Gesellschaftsordnung lebt, durchdringt die Widerrechtlichkeit seine eigene Lebensform und verhindert ihn am Ergreifen seiner existentiellen Möglichkeiten. Deshalb können wir sagen, daß jeder, der sich selbst will, an den Zuständen der ihn umschließenden Gemeinschaft nicht desinteressiert sein kann. Die Sozietät ist das Medium, durch welches ich zu mir selbst gelange, und ich kann mich nicht gerecht und gut wollen, wenn ich nicht auch die Gesellschaftsordnung gerecht und gut will. Existential-philosophisch formuliert, ist der Kampf für den Sozialismus ein Kampf um die eigene Freiheit. Wir können nicht anders als den Sozialismus wollen, weil wir unsere eigene Freiheit zu verwirklichen gewillt sind.
Die Zukunft des Sozialismus wird weitgehend davon abhängen, ob er die Individuen und die Massen davon zu überzeugen vermag, daß sie im Kampf um den Sozialismus ihre eigene Sache vertreten, um dies einleuchtend darzutun, werden die Sozialisten existential-philosophisches Ideengut übernehmen müssen. Möglicherweise bringt die Zukunft eine bedeutsame Annäherung beider Lehren, die schließlich eine fruchtbare Vereinigung zu einer totalen, sozialistischen Weltanschauung herbeiführt.
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* Anmerkung der Redaktion von Seniora.org: Eine eigentliche "zweite Hälfte" von Sein und Zeit existiert nicht. Martin Heidegger (1889 –1976) hatte ursprünglich geplant, das Werk in zwei Teilen zu veröffentlichen, wobei der zweite Teil die „Zeit“ explizit thematisieren und die „Destruktion der Geschichte der Ontologie“ vertiefen sollte. In Sein und Zeit wird jedoch nur der erste Teil ausgeführt, und der angekündigte zweite Teil blieb ungeschrieben.
Heidegger selbst erklärte später, dass er aufgrund der „Unzulänglichkeit der Sprache“ und einer grundlegenden Neuorientierung seines Denkens (die Kehre) nicht in der ursprünglich geplanten Weise weiterschreiben konnte. Stattdessen entwickelte er seine Gedanken in späteren Werken weiter, insbesondere in seinen Beiträgen zur „Geschichte des Seins“ und der Auseinandersetzung mit Sprache, Technik und Kunst. Eine Weiterführung der Gedanken aus Sein und Zeit findet sich unter anderem in Texten wie Vom Wesen der Wahrheit (1930), Einführung in die Metaphysik (1935) oder Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (geschrieben 1936 –1938, veröffentlicht 1989).
Hinweis: Die Zwischentitel in diesem Aufsatz stammen nicht vom Autor sondern von der Redaktion von Seniora.org.