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Die frühe emotionale Bindung ist entscheidend für die geistige und körperliche Entwicklung.


publiziert: 15. Februar 2013

Kinder brauchen Geborgenheit, um sich ihrer Umwelt zu stellen. Das Gehirn reift durch Herausforderung.

von Ingeborg Bördlein

Frankfurt -  In die Diskussion um eine bessere Ausbildung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland schalten sich jetzt Wissenschaftler ein, die sich mit der frühen Entwicklung von Kindern beschäftigen: Sie sehen eine sichere emotionale Bindung im ersten Lebensjahr als den besten Nährboden für gute Lebens- und Bildungschancen in späteren Jahren.

Das Bindungssystem, das sich im ersten Lebensjahr entwickle, bleibe während des gesamten Lebens aktiv und sei ein entscheidendes Fundament für die körperliche und geistige Entwicklung, erklärte der Kinder- und Jugendpsychiater Karl-Heinz Brisch von der Universität München kürzlich bei einer Veranstaltung der Initiative "New family   – Kinder brauchen frühe Bindung" in Frankfurt. Außerdem sei es ein "lebenslanger seelischer Schutzfaktor". Neue Erkenntnisse über die Bedeutung dieser emotionalen Dimension für eine gelingende kindliche Entwicklung würden zu wenig beachtet und umgesetzt, kritisierten Experten bei der Veranstaltung in Frankfurt.

Ihr Verständnis basiert auf der Bindungstheorie des englischen Psychiaters John Bowlby , die dieser bereits vor 50 Jahren aufstellte. Danach baut der Säugling auf der Grundlage eines biologisch festgelegten Verhaltensmusters eine starke emotionale Bindung zu einer Hauptbezugsperson   – in der Regel zur Mutter   – auf. Diese Person bietet einen "sicheren Hafen" bei Einflüssen von außen und Gefahrensituationen. Ein Säugling, der sich sicher und geborgen fühle, sei bestens gerüstet, seine Umwelt zu erforschen, so Brisch.

Erst in den letzten Jahren haben Hirnforscher und Entwicklungspsychologen belegt, welch enger Zusammenhang zwischen Bindung und Bildung besteht. Wie Professor Gerald Hüther aus Göttingen erläuterte, hält das kindliche Gehirn einen riesigen Fundus von Milliarden Nervenzellen bereit, die sich durch Vernetzung und Verschaltung zu einem komplexen, lebenslänglich lernfähigen Gehirn entwickeln.

Um die in seinem Gehirn angelegten Verschaltungen auszubauen und zu festigen, brauche das Kind Herausforderungen seiner Umwelt, denen es sich aber nur mit dem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit stellen könne, sagte der Neurobiologe. Somit seien die frühen Erfahrungen entscheidend dafür, "welche Verschaltungen zwischen den Milliarden Nervenzellen besonders gut gebahnt und stabilisiert und welche nur unzureichend entwickelt und ausgeformt werden".

Daher sieht Hüther im Vertrauen die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen und diese im Gehirn festigen könnten. Hinter dem von den Wissenschaftlern postulierten Bindungskonzept steckt, dass die Pflegeperson   – sie muss nicht zwangsläufig ein Elternteil sein   – feinfühlig erkennt, was das Baby will, wenn es zum Beispiel schreit: Ob es Hunger hat oder auf den Arm genommen werden will oder einfach nur das Bedürfnis hat zu kommunizieren. Ist das Kind älter als ein Jahr, erhöht sich die Zahl der möglichen Bezugspersonen. Werden die Bedürfnisse des Säuglings zurückgewiesen oder nur teilweise befriedigt, resultiert eine unsichere oder ambivalente Bindung mit den entsprechenden Folgen.

Bindungsstörungen zeigen sich unter anderem darin, dass das Kind selbst kein Bindungsverhalten hat, also nicht weint oder protestiert, wenn die Mutter den Raum verlässt. Solche Kinder werden oft als "pflegeleicht" bezeichnet, so Brisch. Eine weitere Reaktion ist "soziale Promiskuität". Das Kind sucht wahllos bei Fremden Nähe und Trost oder es klammert sich umgekehrt übermäßig an. Auch ein erhöhtes Unfallrisikoverhalten bei Kindern kann Anzeichen einer Bindungsstörung sein. Der Hintergrund: Die Aufmerksamkeit der Eltern ist das Ziel. Wird die Bezugsperson gar zu einer Quelle der Angst und der Bedrohung, etwa bei Missbrauch oder Gewalt, entwickeln sich entsprechend schwere Störungen. Häufige Folgen sind psychosomatische Krankheiten.

Den meisten Eltern bescheinigten die Experten ein intuitiv richtiges Bindungsverhalten gegenüber ihrem Neugeborenen. Ein Drittel allerdings vermag keine sichere Bindung zu geben   – meist auf Grund von ebenfalls unsicherer Bindungserfahrung als Kind   – wie Studien gezeigt haben.

Die Botschaft der Initiative "New family" lautet: "Die Interpretation frühkindlicher Signale und die richtige Reaktion darauf kann man lernen." Entsprechend will die Initiative zukünftig Programme als "Sichere Ausbildung für Eltern" anbieten und auch Erzieher, Pädagogen, Ärzte, Sozialpolitiker und Psychologen mit den Grundsätzen vertraut machen. Selbst wenn bereits eine Störung da sei, so die Wissenschaftler, könne man sie durch eine entsprechende Intervention noch beheben.

Quelle: Artikel erschienen am 10. Feb 2004 Welt

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