Kita-Krise: In Deutschlands Kitas arbeiten immer mehr Menschen ohne pädagogische Ausbildung
Mehr Arbeitsbelastung, weniger voll ausgebildete Fachkräfte – zwei Studien zeichnen ein düsteres Bild der Kinderbetreuung in Deutschland. Eine Expertenempfehlung erfüllen nur die ostdeutschen Länder.
Erzieherin mit Kitakindern: Das pädagogische Personal in Kitas fühlt sich oft überlastet Foto: Julian Stratenschulte/ DPA
In Deutschlands Kitas und Kindergärten arbeiten anteilig immer weniger voll ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher. Weil in vielen Einrichtungen Personal fehlt, werden immer mehr Menschen ohne die formalen pädagogischen Voraussetzungen eingestellt, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.
Zu diesem Ergebnis kommt das »Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme« der Bertelsmann Stiftung, das an diesem Mittwoch vorgestellt wird. Dafür werteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Daten des Statistischen Bundesamts und weiterer amtlicher Statistiken aus.
Im Jahr 2017 hatten demnach bundesweit 41 Prozent aller pädagogischen Teams in Kitas eine Fachkräftequote von mehr als 80 Prozent. Das heißt, mehr als acht von zehn Mitarbeitenden hatten dort mindestens einen einschlägigen Fachschulabschluss. 2023 traf das nur noch auf 32 Prozent der Teams zu. Ein Rückgang sei in 13 von 16 Bundesländern zu verzeichnen, schreiben die Wissenschaftler. In Berlin sank die Quote demnach sogar um 18 Prozentpunkte, in Mecklenburg-Vorpommern um 15 und in Nordrhein-Westfalen um 14 Prozentpunkte.
Nur ostdeutsche Länder erfüllen Empfehlung des Familienministeriums
Die Arbeitsgruppe Frühe Bildung, eingesetzt vom Bundesfamilienministerium, hatte jüngst empfohlen, dass die Fachkräftequote in Kitas flächendeckend mittelfristig bei 72,5 Prozent und perspektivisch bei 85 Prozent liegen sollte. In den ostdeutschen Bundesländern erreicht ein Großteil der Einrichtungen schon heute diese Vorgabe.
Die westdeutschen Bundesländer liegen allerdings im Schnitt deutlich darunter. Schlusslicht ist Bayern: Hier arbeitet nur in drei Prozent aller Kitas und Kindergärten ein pädagogisches Team mit mindestens acht von zehn voll ausgebildeten Fachkräften.
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»Grundsätzlich ist es gut, wenn Kitas neue Mitarbeitende gewinnen. Aber für die anspruchsvolle Arbeit mit den Kindern benötigen sie eine ausreichende pädagogische Qualifikation«, sagt Anette Stein, Expertin der Bertelsmann Stiftung für frühkindliche Bildung. In einer Notsituation könne es vertretbar sein, die Anforderungen vorübergehend zu senken, um die Schließung einer Kita abzuwenden. Dauerhaft sei das aber keine Lösung – »doch genau diese Tendenz sehen wir momentan in mehreren Bundesländern«.
Qualität der Betreuung leidet
Betreue nicht ausreichend qualifiziertes Personal die Kinder, leide die Qualität, sagt Katrin Bock-Famulla, die die Bertelsmann-Studie maßgeblich verantwortet. Das träfe etwa Kinder, die nicht gut Deutsch sprächen. »Sie brauchen besondere Förderung, die dann nicht gewährleistet werden kann.«
Außerdem müssten Mitarbeitende, die keine Erzieherausbildung abgeschlossen hätten, vom restlichen Personal verstärkt angeleitet und unterstützt werden. »Das bindet zusätzliche Energie und Zeit«, sagt Bock-Famulla.
»Nicht wenige überlegen, den Beruf zu wechseln.«
Marina Lagemann, Institut für Kindheits- und Schulpädagogik, Universität Gießen
Ohnehin fühlt sich ein Großteil des pädagogischen Kitapersonals in Deutschland überlastet. Das ist das Ergebnis einer groß angelegten Umfrage der Justus-Liebig-Universität Gießen, die zeitgleich mit dem Bertelsmann-Ländermonitoring vorgestellt wurde. Die Kindheitspädagoginnen Marina Lagemann und Eva Werner hatten dafür die Antworten von mehr als 20.000 Kitamitarbeitenden ausgewertet.
Großteil der Beschäftigten fühlt sich überlastet
»Das Gefühl, die Arbeit kaum noch stemmen zu können, hängt eng damit zusammen, wie gut die Kita personell aufgestellt ist«, sagt Studienleiterin Lagemann. Sei die Kita unterbesetzt, fühlten sich mehr als drei Viertel der Beschäftigten überlastet. Doch selbst in Einrichtungen, die von den Beschäftigten als »eigentlich immer gut besetzt« kategorisiert wurden, klagten 40 Prozent darüber, sich »häufig überlastet« zu fühlen.
»Nicht wenige überlegen deshalb, den Beruf zu wechseln«, sagt Langemann. Das System gerate in eine Negativspirale. Rund ein Viertel der Befragten gaben an, in den kommenden fünf Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 bis 100 Prozent auszusteigen, also das Berufsfeld Kita komplett zu verlassen.
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Wie sich die Situation für die Beschäftigten kurzfristig verbessern ließe? Es brauche mehr Beratung und Begleitung, sagt Bertelsmann-Expertin Stein. Außerdem müsse sich der Anteil an Fachkräften erhöhen. »Es gilt, neues und gut ausgebildetes Personal zu gewinnen und Mitarbeitende, die noch nicht hinreichend qualifiziert sind, weiterzubilden.«
Ein wenig Hoffnung mache auch der demografische Wandel, sagt Bock-Famulla, genauer: die sinkende Geburtenrate. »In Ostdeutschland und auch in einigen Regionen Westdeutschlands bleiben bereits Kitaplätze frei – das könnte man nutzen, um die Betreuungssituation in den Kitas zu verbessern.«