«Kinder ohne Liebe» Ein Nachruf auf Professor Zdeněk Matějček
Der Kinderpsychologe und Forscher Zdeněk Matějček gilt heute als Begründer der sogenannten Tschechischen Kinderpsychologischen Schule und hat in wichtigen Studien und mit grosser Sorgfalt die Entwicklungsbedingungen von Kindern untersucht.
Vor einigen Jahren (2013) hielt ich vor den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer gepflegten Zürcher Kindertagesstätte einen Vortrag über "Die Bedeutung Alfred Adlers für die heutige Pädagogik". Die Leiterin war von mir auf Adler aufmerksam gemacht worden und wunderte sich, dass dieser herausragende Psychologe, den man als eigentlichen "Vater der Psychosomatik" bezeichnen muss, in der derzeitigen pädagogischen Ausbildung der Krippen-Erzieherinnen keine Erwähnung findet.
Als in der angeregten Diskussion nach dem Vortrag die Rede auf die ungemein wichtige Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung vor allem im ersten Lebensjahr – welches der bekannte schweizer Biologe Adolf Portmann als "sozialen Uterus" bezeichnet – kam, war ich erstaunt zu erfahren, dass heute immer mehr Mütter ihre Säuglinge bereits mit 2-3 (!) Monaten in die Krippen bringen.
Verständlich ist diese Situation, weil die Schweiz einerseits prozentual die höchste Zahl der berufstätigen Mütter Europas hat und andererseits den Müttern nur eine relativ kurze Baby-Pause gewährt. In Deutschland z. B. erhält eine Mutter ein Jahr lang zwei Drittel des Lohnes. Auch scheint das Drei-Generationen-Modell nicht mehr so zu spielen, wie es gewünscht wäre.
Wenn ich mich in diesem Zusammenhang auf die nachstehende wertvolle Forschung von Professor Zdeněk Matějček an Krippenkindern in Tschechien beziehe, möchte ich zunächst vorausschicken, dass die wohlhabende Schweiz nicht mit einem Ostblockland zu vergleichen ist.
Dennoch möchte ich den Müttern empfehlen sich einen Krippenplatz auszusuchen, wo eine sehr wohlwollende, verlässliche und beziehungsfähige Betreuung des Säuglings gewährleistet ist. Dann werden Entwicklungsstörungen, wie im Film "Kinder ohne Liebe" dargestellt, eher zu vermeiden sein.
Darum empfehle ich dringend, dass der Film "Kinder ohne Liebe" und die Forschungen Professor Zdeněk Matějčeks von Politik, Pädagogik, Kinderärzten und Eltern zur Kenntnis genommen werden. Herzlich Willy Wahl
Pro Memoria: «Kinder ohne Liebe»
Ein Nachruf auf Professor Zdeněk Matějček
von Dr. Eliane Gautschi
Zdeněk Matějčeks Lebensweg war nicht immer einfach und wurde geprägt von den politischen Verhältnissen der Ostblockstaaten in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Mit dem Ziel, Lehrer zu werden, studierte er ursprünglich Philosophie und Literatur. Wegen der politischen Umstände war es ihm jedoch verwehrt, diesen Beruf auch auszuüben. Er begann am Institut für Sozialpädagogik zu arbeiten. Dort beteiligte er sich zunächst an Forschungen über verschiedene Lernstörungen. Später konzentrierte er sich auf langfristige Beobachtungen an Kindern und befasste sich eingehend mit der Frage nach den Grundbedingungen für ihre gesunde emotionale Entwicklung. Spezielle Aufmerksamkeit widmete er Kindern, die – wie damals im Ostblock mehr oder weniger üblich – einen grossen Teil des Tages in kollektiven Erziehungseinrichtungen verbrachten und sozial gefährdet waren.
Diese Kinder zeigten teilweise alarmierende psychische Fehlentwicklungen, die auf eine fehlende warmherzige Bindung an eine konstante Beziehungsperson und einen Mangel an gefühlsmässiger Zuwendung zurückgeführt werden mussten. Er beschrieb die damalige Lage der Kinder in den Kinderbetreuungseinrichtungen seiner Heimat sehr treffend, stiess aber unter den herrschenden politischen Verhältnissen bei Behörden und Staatsverwaltung auf wenig positives Echo. In Fachkreisen hingegen wurden seine Forschungsresultate aufgenommen und zogen unmittelbar Verbesserungen in den Betreuungskonzepten dieser Einrichtungen nach sich, und weitere Untersuchungen folgten. Gemeinsam mit Josef Langmeier publizierte er das Werk «Psychische Deprivation im Kindesalter – Kinder ohne Liebe», das in verschiedene Sprachen übersetzt wurde und Eingang in die Fachwelt fand.
Zdeněk Matějček betonte die Bedeutung der Familie als seelische Heimat der Kinder und zeigte auf, wie jedes Familienmitglied auf natürliche und unmittelbare Weise eine wichtige Rolle bei der Erfüllung lebenswichtiger Bedürfnisse in der körperlichen, gefühlsmässigen, intellektuellen und moralischen Entwicklung eines Kindes beitragen kann. 1963 entstand unter der Regie von Kurt Goldberger der Film «Kinder ohne Liebe». Einfühlsam und bewegend wurde die Problematik der ausserhäuslichen Kindererziehung aufgegriffen und wurden die Auswirkungen mangelnder Bindung auf die Entwicklung der Kinder dargestellt. Nachdem der Film am Filmfestival in Venedig drei Preise gewonnen hatte, fand er in der ausländischen Öffentlichkeit die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Nach 1990 konnte er auch in seiner Heimat öffentlich aufgeführt werden. Weil darin Zdeněk Matějček selbst bei seiner Arbeit mit den Kindern aufgezeichnet wurde, ist dieser Film auch ein Dokument seiner eindrücklichen Persönlichkeit.
Der Film und die im Buch zusammengetragenen Forschungsergebnisse müssten heute noch zu den verbindlichen Unterrichtsinhalten jeder Ausbildung im Bereich der Kindererziehung gehören.
Erst 1995 wurde Zdeněk Matějček der Professorentitel verliehen. Er wirkte als Pädagoge an der Karls-Universität und arbeitete mit dem Prager Zentrum für Psychiatrie zusammen. Seine Forschungsergebnisse fanden Eingang in die Medien, und 1996 wurde er von Vaclav Havel mit der Verdienstmedaille ausgezeichnet. In den letzten Jahren war er regelmässiger Gastreferent der jährlich von der Theodor-Hellbrügge-Stiftung mitveranstalteten entwicklungspsychologischen Kongresse zu Fragen der Bedeutung von Beziehung und Bindung für die kindliche Entwicklung, denen er durch seine gehaltreichen Referate und seine Persönlichkeit ein spezielles Gepräge gab.
Auch in seiner Heimat blieb er bis zu seinem Tode tätig und hinterlässt nun eine schmerzliche Lücke, wie dies der Präsident der Tschechischen Gesellschaft für Sozialpädiatrie, Frantisek Schneiberg, zum Ausdruck brachte: «Ich bin sehr glücklich, dass ich mit Professor Matejcek zusammenarbeiten konnte. Wir arbeiteten an derselben Kinderklinik in Prag. Vor einigen Wochen diskutierte ich mit ihm über das Konzept der Ersatzfamilienfürsorge in der Tschechischen Republik. Ich hatte mich darauf gefreut, mit ihm den Entwurf in den nächsten Tagen dem Ministerium zu unterbreiten. Leider wird es nicht mehr dazu kommen, und dies tut mir sehr leid.»
Bis zu seinem Tode blieb Zdeněk Matějček ein Forschender, und viele Fragen blieben für ihn noch zu lösen, wie er vor kurzem gegenüber Radio Prag zum Ausdruck brachte:
«Es gibt vieles, was wir noch lernen sollten. Die kleinsten Kinder verstehen wir immer noch nicht richtig, weil uns das Kind nichts mitteilen kann. Wir versuchen sein Verhalten nur zu entschlüsseln und vermuten oder schätzen ab, was das Kind in etwa erlebt. Wir können uns davon durch kein Experiment überzeugen.»
Zdeněk Matějček hat mit seinem lebenslangen Wirken nicht nur Generationen von Kinderpsychologen, Kinderärzten, Pädagogen und Erziehern mitgeprägt, sondern uns mit seinen Studien und Forschungen ein auch weiterhin auszuschöpfendes Vermächtnis hinterlassen.
Quelle: Artikel 7: Zeit-Fragen Nr.47 vom 6.12.2004
Mit freundlicher Genehmigung übernommen
Inzwischen wissen wir mehr zur Mutter-Kind-Bindung: Das Still Face Experiment
Der Film «Kinder ohne Liebe» ist erhältlich in deutscher, englischer oder tschechischer Version