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Im Gespräch: Psychoanalytikerin Caroline Thompson

„Abhängige Eltern haben abhängige Kinder“
Mit Caroline Thompson* sprach Anna v. Münchhausen, 31. August 2008
31. August 2008
Ein heißer Tag in Paris, ein kleines Apartment im Stadtteil Saint Germain: Hier hat Caroline Thompson ihre Praxis, Psychoanalytikerin und Buchautorin. Ihr in Frankreich heftig diskutierter Titel „La violence d'amour“ erscheint in diesen Tagen auf Deutsch: „Die Tyrannei der Liebe“. Ein heikles Thema:

Lieben Eltern ihre Kinder mehr, als denen guttut? Bringt unsere Wohlfühlgesellschaft kleine Monster hervor? Welche Folgen hat es, wenn sich Erwachsene emotional von ihrem Nachwuchs abhängig machen? Caroline Thompson nimmt auf ihrer roten Couch Platz.

 

Mme. Thompson, ein aktueller deutscher Bestseller fragt, „warum aus Kindern Tyrannen werden“. Sind auch Sie der Meinung, dass Eltern sich ihren Kindern unterwerfen und ausliefern?

Zunächst einmal geht es mir nicht in erster Linie darum, Eltern Vorwürfe zu machen. Ganz im Gegenteil: Ich möchte, dass sie sich besser fühlen. Wenn wir das Thema historisch betrachten, stellen wir allerdings fest, dass die Stellung des Kindes als die Nummer eins in der Familie ein relativ neuer Faktor ist.

Wir nehmen ein Kind als Individuum wahr, ja. Das ist doch nicht falsch.

Gewiss. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der die bestimmende Einheit das Individuum ist.

Und was bedeutet das   – psychologisch gesehen   – für Erzieher?

In meiner Beratungspraxis sehe ich, dass Eltern enorm engagiert sind, aber sich nicht trauen, die Autorität zu sein. Sie stellen sich die Frage: In wessen Namen bin ich die Autorität in diesem Haus? Früher war diese Frage durch das soziale Umfeld festgelegt. Heute haben wir uns selbst zu erfinden und unser Wertsystem selbst festzulegen.

Tun Eltern das nicht mehr oder weniger unbewusst?

Nehmen wir eine klassische Situation: Auf dem Spielplatz schubst ein Kind ein anderes von der Leiter, um schneller nach oben zu kommen. Ich behaupte: Es ist eine kulturelle Frage, ob wir dieses Verhalten billigen oder ablehnen. Die Antwort hängt vom Wertsystem der Familie ab, von ihrem kulturellen Hintergrund.

 Caroline Thompson B

Caroline Thompson: „Regeln helfen, Abstand zu halten”

Eltern sind nicht jeden Tag stark. Mal halten sie ihr Kind davon ab, das andere zu schubsen, beim nächsten Mal lassen sie es ihm durchgehen und finden es super, dass es sich durchsetzt. Ich beobachte, dass viele Eltern verunsichert sind, was genau sie ihren Kindern beibringen sollen. Eine Autorität ist man nicht von allein, wenn man gar nicht genau weiß, was man vermitteln will.

Mit dem Begriff Autorität haben gerade wir in Deutschland ein Problem.

Es gibt eben diese Idee, dass das Glück und die Freiheit des Individuums das Allerwichtigste sind. Daraus folgt die perverse Sorge: Wenn ich meinem Kind Werte oktroyiere, beraube ich es der Freiheit, wählen zu können. Aber wie soll ein Kind wählen, solange es nicht die Bedingungen kennt?

Viele Eltern scheuen sich, einzugreifen, weil sie denken, das Kind wisse instinktiv, was es braucht.

Richtig, das ist dieses alte Rousseausche Denken und die Prämisse, dass Kinder und Eltern auf der gleichen Ebene denken und entscheiden. Natürlich sind Kinder Individuen, aber ein Zweijähriges auf der Straße allein zu lassen, bedeutet, dass es sterben wird, wenn ein Erwachsener nicht aufpasst. Wir sprechen von „funktionaler Unreife“: Ein Kind ist unreif   – es ist physisch nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen, sich zu ernähren, Unterkunft zu verschaffen   – das ist eine nicht zu leugnende Realität. Also befinden sich Eltern im Verhältnis zu ihren Kindern in einer hierarchischen Beziehung. Regeln sind eine Chance für das Kind, sie engen nicht ein, sondern geben ihm Richtschnur und einen Rahmen.

Kinder lieben es, Regeln zu umgehen oder zu „vergessen“. Was tun?

Richtig. Kein Kind putzt sich freiwillig die Zähne. Würden wir das durchgehen lassen, hätten Sechzehnjährige keine Zähne mehr. In den sechziger Jahren war man der Ansicht, es sei schrecklich für das Kind, Regeln befolgen zu müssen. In Wirklichkeit ist es unfair, dem Kind das Rahmenwerk vorzuenthalten, das es befähigt, schließlich selbst Entscheidungen zu treffen.

Regeln geben Kindern also Sicherheit. Und was haben die Eltern davon?

Emotionale Beziehungen können explosiv sein   – auch die zwischen Eltern und Kindern. Regeln helfen, Ruhe da hineinzubringen. Denn eine Regel ist etwas Neutrales, sie kommt von außen. Ich will nicht leugnen, dass es Eltern gibt, die das Regulieren missbrauchen. Aber „Putz dir die Zähne“ ist nun wirklich nichts, das Eltern Macht verleiht oder etwas, das aus Willkür befohlen wird. Diese Aufforderung macht aus dem Kind selbstverständlich noch kein Opfer. Es kühlt die Sache ab und verhindert auf diese Weise, dass man sich in symbiotische Beziehungen verstrickt. Regeln helfen, Abstand zu halten.

Müssen Eltern nicht ihre eigenen Werte ständig überprüfen, ob sie als Richtschnur taugen?

Das Wichtige ist, dass eine Kohärenz erkennbar ist zwischen dem, was Eltern sagen, und dem, was sie tun. Wenn das oberste Prinzip einer Familie die Arbeit ist, dann lautet die Botschaft an das Kind: Bring gute Noten nach Hause. Falls aber die Mutter, der Vater sagen: „Ach was, das Wichtigste für mich ist, dass mein Kind glücklich ist“ und diese Eltern dann enttäuscht reagieren, wenn das Kind mit schlechten Noten heimkommt, dann ist das eine klassische widersprüchliche Botschaft. Das Kind verwendet äußerste Energie darauf, herauszufinden, wonach es sich richten soll.

Eltern lieben ihr Kind und sollen das auch. Wann wird diese Liebe zur Gefahr?

In Frankreich wird mittlerweile jede zweite Ehe geschieden. Das bedeutet, dass fünfzig Prozent der Kinder die Beziehung zu einem Elternteil als die am längsten dauernde erleben, vielleicht abgesehen von der zu einem Geschwister, die natürlich ein ganzes Leben dauern kann. Aber für eine Mutter oder einen Vater ist es die Beziehung zu einem Kind, und das kann eine Abhängigkeit schaffen, weil so viel Zeit, Energie und emotionales Engagement hineinfließen. Wir verwenden viel Zeit darauf, ein Kind zu einem perfekten Wesen zu machen.

Und perfekt bedeutet: der Mutter, dem Vater möglichst angepasst. Wie kann da noch Abnabelung gelingen?

Abhängige Eltern haben abhängige Kinder, so viel ist klar. Die wichtigste emotionale Aufgabe für ein Kind ist Ablösung, Selbständigkeit, und zwar von einem sehr frühen Alter an. Zunächst vollzieht sich das in sehr langsamen Schritten   – sie lernen gehen, sie ziehen sich allein an, sie gehen zur Schule . . . Erfolgreich ist eine Erziehung meiner Meinung nach dann, wenn dem Kind ermöglicht wird loszulassen. Dann weiß man, dass man es richtig gemacht hat.

Und woran erkennt man, dass man es nicht richtig gemacht hat?

Das sehen wir ja auch häufig genug: Kinder, die viel länger zu Hause wohnen bleiben als nötig, junge Erwachsene, die Probleme haben, stabile Beziehungen zu anderen aufzubauen. Ohne zu sehr zu verallgemeinern: Wir sehen auch junge Erwachsene, die selbst zum Teil sehr früh Kinder bekommen, um eine Abhängigkeit herzustellen.

Eltern erwarten, dass ihre Liebe und Fürsorge von den Kindern erwidert wird. Ist das realistisch?

Eltern sollten geben, ohne Erwartungen damit zu verbinden. Wer von seinem Kind Zeit oder Aufmerksamkeit zurückhaben möchte, bekommt Probleme. Denn was wir unseren Kindern geben, soll sie stark machen zu gehen. Das ist ja einer der großen Konflikte während der Pubertät, wenn der Abnabelungsprozess einsetzt und die Eltern in Panik verfallen.

Dass sie sich Sorgen machen, was diese hormongesteuerten Youngsters anstellen, ist wohl normal.

Ich sage manchmal: Fünfzehnjährige gibt es gar nicht. 15 ist eine Mischung aus fünf und 25. Manchmal benehmen sie sich wie Fünfjährige und betteln um eine Mahlzeit, und eine Stunde später behandeln sie uns wie einen Schwerverbrecher, weil man wagt, ihnen einen Kuss zu geben, wenn sie aus der Tür gehen.
Wenn Eltern dann sauer reagieren und denken: Jetzt habe ich dich gerade toll bekocht, und schon haust du wieder ab mit deinen Freunden, dann verstehen sie einfach nicht, wie es ist, 15 zu sein. Viel besser, dass der Junge mit seinen Freunden ausgeht, als zu Hause zu sitzen. Die Idee der Symmetrie ist für Kinder sehr gefährlich.

In Ihrem Buch ist auffallend wenig die Rede von Kindergärten und Schulen. Können diese Einrichtungen nicht regulierend wirken in der Symbiose von Eltern und Kindern?

Vielleicht. Aber ich glaube, dass es die Primärbeziehung ist, die unsere Beziehung zur Außenwelt bestimmt. Und das auch, wenn das Kind sehr viel Zeit in der Crèche oder im Kindergarten verbringt. Es könnte allerdings eine Korrekturfunktion haben für Kinder, die zu Hause eine pathologische Situation erleben.

In Deutschland wird immer noch über die Frage gestritten, ob die Berufstätigkeit der Mutter sich schädlich auf die kindliche Seele auswirkt. Wie denken Sie darüber?

Ich kenne die deutschen Verhältnisse zu wenig, um etwas darüber zu sagen. In Frankreich hören wir so etwas jedenfalls nicht. Nach der Geburt hat die Mutter drei Monate Erziehungszeit, dann geht sie in ihren Beruf zurück.

Und niemand zeigt mit dem Finger auf die Rabenmutter?

Niemand. Aber sicher würden die meisten Mütter lieber sechs Monate zu Hause bleiben. Wobei die einschlägige Literatur eher feststellt, dass es auch kleinen Kindern nicht schadet, wenn die Mutter berufstätig ist.

Wie steht es in Frankreich mit Vätern, die Elternzeit nehmen?

Sie könnten es, aber sie tun es nicht. Es ist ihnen ungewohnt. Auch in meiner Praxis sind es zu 80 Prozent die Mütter, die ihr Kind herbringen.

Ihr Buch will kein Ratgeber sein, sondern ein Essay   – warum?

Ja, und zwar aus einem einfachen Grund: Die meisten Ratgeber machen Eltern nicht stärker, sondern suggerieren ihnen vor allem, dass sie dringend hilfsbedürftig sind. Wenn man Elternschaft aber als eine Art Lehre sieht, durch die wir gehen, ist es enorm wichtig, dass wir lernen, uns selbst zu trauen.

Quelle:
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/familie/im-gespraech-psychoanalytikerin-caroline-thompson-abhaengige-eltern-haben-abhaengige-kinder-1679025.html

*Caroline Thompson ist New Yorkerin. Sie arbeitet als Psychoanalytikerin in der psychiatrischen Abteilung für Kinder und Jugendliche am Hôpital de la Pitié-Salpêtrière in Paris. Ihr Buch «Die Tyrannei der Liebe» ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen. ISBN: 388897528X

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