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Unsere Kinder müssen nicht zu Tyrannen werden

09. Dezember 2013

Unsere Kinder müssen nicht zu Tyrannen werden

von Dieter Sprock

Die Erziehung der Kinder und die Einführung der Jugend ins Leben bilden in jeder Gesellschaft die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Sie sollten deshalb jederzeit höchste Beachtung finden. Wenn nun ein Buch mit dem Titel «Warum unsere Kinder Tyrannen werden» in kurzer Zeit seine 9. Auflage erfährt,

so greift es offenbar ein Thema auf, das zahlreiche Menschen beschäftigt. Der Autor spricht aus, was vielen in unserer Gesellschaft aufstösst. Lehrmeister, Lehrer, Kinderärzte und auch Eltern merken, dass im Umgang mit unseren Kindern etwas falsch läuft: Die Erwachsenen haben aufgehört, die Kinder zu führen.

Das Buch von Michael Winterhoff handelt von Kindern und Jugendlichen, die scheinbar resistent gegen alle Erziehungsversuche sind und mit ihrem tyrannischen Verhalten die Familie und ihre Umwelt schikanieren. Sie können sich nirgendwo einordnen, müssen ständig im Mittelpunkt stehen und leben so, als seien sie alleine auf der Welt. Ihr psychischer Reifegrad stagniert auf dem Niveau von Dreijährigen, ihr Denken kreist nur um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, und ihnen fehlen die psychischen Voraussetzungen, um falsches von richtigem Verhalten zu unterscheiden.

Im Kindergarten und in der Schule sind diese Kinder keine guten Mitspieler. Sie stören mit ihrem Verhalten die Abläufe innerhalb der gesamten Klasse und treten ihren Mitschülern gegenüber körperlich und verbal extrem aggressiv auf. Selbst Lehrer stellen für sie keine Begrenzung ihres eigenen Egoismus dar.

Als Jugendliche mangelt es ihnen an der nötigen Ausbildungsreife. Viele Lehrbetriebe klagen über ihre schlechte Arbeitshaltung und mangelnden Fähigkeiten. Die Rede ist von 25 bis 30 Prozent nicht ausbildungsfähigen Schulabgängern.

Erschreckende Zunahme schwerstgestörter Kinder

Der Autor, der seit 20 Jahren als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bonn eine eigene Praxis führt, spricht von einer erschreckenden Zunahme schwerstgestörter Kinder, und er sieht, wenn sich kein Bewusstsein für diese Störungen bildet, längerfristig sogar den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet, denn immer weniger arbeits- und beziehungsfähige Jugendliche und Erwachsene seien die Folge:

Vor 10, 15 Jahren kamen lediglich 4 schwierige Kinder auf eine Schulklasse. Inzwischen habe sich das Verhältnis umgekehrt. Zudem hätten immer mehr Kinder gleich in mehreren Bereichen gravierende Schwierigkeiten. Im Jahr 2006 wurden Schul­neulinge auf Auffälligkeiten in den Bereichen Feinmotorik, Wahrnehmung, Logik/Lernen, Mathematik, Grobmechanik, Sprache, Arbeits- und Sozialverhalten geprüft. In einer Klasse wiesen lediglich 4 von 25 Schülern keine Störungen auf, weitere 4 hatten nur eine Störung, alle anderen waren in mehreren Bereichen auffällig, 2 erreichten sogar die Höchstzahl von sieben Störungen. In weiteren Klassen war die Bilanz ähnlich.

Verändert habe sich auch die Herkunft der psychisch auffälligen Kinder und Jugendlichen. Die Mehrzahl käme heute nicht mehr aus sozialen Problemverhältnissen und zerrütteten Familien. Dieser Ansatz greife zu kurz. Auffällig seien heute zunehmend auch Kinder aus finanziell gutgestellten Elternhäusern und intakten Familien mit gesunden und beziehungsfähigen Eltern, die ihre Kinder keineswegs vernachlässigen. Im Gegenteil. Sie pflegen vom ersten Tag an einen liebevollen Umgang und sind bereit, alles zu tun, um glückliche und zufriedene Kinder zu erziehen.

Tyrannischen Kindern fehlt es an psychischer Reife

Michael Winterhoffs Buch ist kein Erziehungsratgeber. Es propagiert auch keine neue Pädagogik, sondern geht der Frage nach, wie sich die menschliche Psyche entwickelt. Was braucht es, damit erwachsene Menschen selbständig leben und arbeiten können, damit sie konstruktive Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen, ihre Gefühle richtig einschätzen und entsprechend kontrollieren können, und wo haben sich in dieser Entwicklung Fehler eingeschlichen, deren Resultat die schwierigen Kinder und Jugendlichen sind?

Die kindliche Psyche bildet sich nicht von alleine. Vor allem kleine Kinder brauchen ein erwachsenes Gegenüber, um die psychischen «Funktionen» und «Weltbilder» aufbauen zu können, die für eine sinnvolle Lebensbewältigung notwendig sind. Funktionen wie Frustrationstoleranz, Gewissensinstanz, Arbeitshaltung oder auch Leistungsbereitschaft «müssen nach und nach ausgebildet werden, um einen optimalen Aufbau der Psyche zu gewährleisten». Auch Weltbilder durchlaufen einen langen Reifeprozess. Die Weltbilder beinhalten eine «ganz bestimmte Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum und unsere Position in ihr wahrnehmen und interpretieren».

Die Ausbildung dieser psychischen Funktionen und Weltbilder erfordert ein immerwährendes Training mit zahllosen Wiederholungen der gleichen Abläufe, und sie muss über das Elternhaus hinaus auch in Kindergärten, Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen fortgesetzt werden.
Psychische Strukturen werden nicht in erster Linie durch liebevolles Zureden und Erklären gebildet oder allenfalls korrigiert.

Zwar ist die Liebe zum Kind eine unabdingbare Voraussetzung für jede Form des Umgangs und der Erziehung, doch prägend ist die Persönlichkeit des Erziehers. Begegnet dieser dem Kind mit der notwendigen inneren Sicherheit gleichsam als Rudelführer, wird sich das Kind nach ihm ausrichten. Das Kind braucht erwachsene Vorbilder und Führung, um seine psychischen und geistigen Fähigkeiten voll ausbilden zu können.

Tyrannische Kinder haben diese Führung nicht bekommen, es fehlt ihnen an psychischer Reife, sie haben nicht gelernt, ihre Aussenwelt und andere Menschen als Begrenzung ihres eigenen Ichs wahrzunehmen und ihnen mit Respekt zu begegnen. Dies ist die Folge einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung, bei der viele Eltern, Erzieher und Lehrer bereits das Gefühl dafür verloren haben, den Kindern diese Begrenzung zu vermitteln. Michael Winterhoff sieht darin eine tiefgreifende Beziehungsstörung zwischen Kindern und Erwachsenen, die er als Partnerschaftlichkeit, Projektion und Symbiose beschreibt.

Führungslose Kinder …

Beim partnerschaftlichen Umgang, der inzwischen so weite Verbreitung gefunden hat, dass er schon nicht mehr als Problem wahrgenommen wird, verlässt der Erwachsene seinen angestammten Platz als Rudelführer und begibt sich auf die Ebene des Kindes. Er tut dies oft in der aufrichtigen Überzeugung, dem Kind damit besondere Liebe und Wertschätzung entgegenzubringen, ohne zu wissen, dass er dabei einer falschen Theorie folgt, nach der das Kind angeblich seine in ihm schlummernden Möglichkeiten am besten allein entwickelt. Ebensowenig ist ihm bewusst, dass er damit oft nur die Befriedigung seiner eigenen unbefriedigten Bedürfnisse nach Anerkennung und Liebe verfolgt.

Wohin es führt, wenn der Erwachsene sich auf die Ebene des Kindes begibt, zeigt Michael Winterhoff an zahlreichen Beispielen, die jeder, der mit Kindern zu tun hat, leicht nachvollziehen kann. Es kommt zu einer «Verschiebung der Ebenen», wobei bereits kleine Kinder, ja selbst Säuglinge, die Führung übernehmen und in gewissem Sinn ihre Eltern erziehen. Sie halten mit Verweigerung oder anderen Auffälligkeiten oft die ganze Familie in Atem. Winterhoff spricht davon, dass «Kinder zu Erziehern ihrer Eltern geworden sind und diese rein lustbetont steuern können», ohne Grenzen zu erfahren.

Sie reagieren ungehalten, wenn ihnen Grenzen aufgezeigt werden und sie ihren Willen nicht durchsetzen können. Sie beschimpfen ihre Eltern und produzieren Wutanfälle, wobei sie auch handgreiflich werden und ihre Eltern schlagen und treten. Beim partnerschaftlichen Umgang wird das Kind häufig auch in Belange der Erwachsenen   – zum Beispiel Ehe- oder Finanzprobleme   – einbezogen, die es auf Grund seines Alters noch gar nicht verstehen kann. Es wird damit seiner Kindheit beraubt.

Bei der Projektion kommt es zu einer weiteren Verschiebung der Ebenen zwischen Erwachsenen und Kindern. Eltern oder andere Erziehungspersonen   – auch Kindergärtnerinnen und Lehrer   – begeben sich auf eine Stufe unter das Kind. Sie werden vom Kind abhängig. Ihre eigene Stimmung und ihr Selbstwertgefühl schwanken gemäss den Stimmungen des Kindes, seinen Leistungen, seinem Verhalten. Gute Leistungen oder Wohlverhalten erleben sie als eigenen Erfolg und Bestätigung. Fehler des Kindes werden zur persönlichen Niederlage. Sie haben ihren Platz als Erzieher verlassen und sind auf die Zustimmung der Kinder ausgerichtet und auf diese angewiesen.

Erzieher, die sich in der Projektion befinden, sehen bei ihren Handlungen nicht mehr das auf sie angewiesene Kind, sondern sich selbst. Sie tun alles, um das Kind zufriedenzustellen, weil sie seine Unzufriedenheit nicht ertragen. Sie haben Angst vor Liebesentzug. Das Kind wird zur Projektionsfläche ihrer eigenen Defizite, sie benötigen es zur Befriedigung ihrer eigenen zumeist unbewussten Bedürfnisse, etwa nach Anerkennung.

Bei der Symbiose kommt es zur Verschmelzung der elterlichen Psyche mit der kindlichen. Auf dieser Ebene können die Eltern nicht mehr erkennen, wenn ihr Kind etwas Falsches tut. Sie nehmen es als Teil von sich selbst wahr.

Eltern, die mit ihrem Kind in einer der oben beschriebenen Beziehungsstörungen leben, deuten das freche und arrogante Verhalten ihres Kindes oft irrtümlich als Selbstwertgefühl und Zeichen besonderer Intelligenz und werfen den anderen   – Lehrern, Erziehern oder Nachbarn   – vor, dass sie ihr Kind nicht richtig verstehen. Sie bewundern und verteidigen das falsche Verhalten ihres Kindes, da sie selbst das Mass dafür verloren haben, was angemessen ist.

Besonders verhängnisvoll für die Kinder und im weiteren Sinn für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung sei, dass inzwischen auch öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten und Schulen durchgängig mit dem Konzept des partnerschaftlichen Umgangs arbeiten und viele Lehrer und Erzieher sich bereits auf der Ebene der Projektion befinden. Dadurch haben die Kinder keine Chance in diesen Einrichtungen, die in der Familie versäumte psychische Entwicklung nachzuholen oder Fehlentwicklungen zu korrigieren.

… im Kindergarten

In den achtziger Jahren verstanden sich Kindergärtnerinnen, aber auch Lehrer und Lehrerinnen noch eindeutig als «Führungs- und Orientierungspersonen, und zwar sowohl gegenüber den Kindern als auch gegenüber den Eltern». Sie sahen ihre Aufgabe darin, die ihnen anvertrauten Kinder ausserhalb der Familie zu fördern und zu erziehen und dabei Verhaltensauffälligkeiten zu korrigieren und familiäre Defizite so gut es ging auszugleichen.

Im Kindergarten gab es einen geregelten Tagesablauf mit festen Ritualen und sich ständig wiederholenden Abläufen, die dem Kind verlässliche Strukturen gaben, in denen es all die Fähigkeiten entwickeln konnte, die es für die Schule brauchte. Die Kinder lernten nicht nur den Umgang mit Schere und Stiften. Sie wurden auch daran gewöhnt, auf ihrem Platz sitzen zu bleiben und Arbeiten fertig zu machen, auch wenn sie einmal keine Lust dazu hatten. «Mit Abschluss des Kindergartens», schreibt Michael Winterhoff, «hatten sich die Kinder eine hohe Kompetenz erworben. Sie waren in der Lage, sich durch Erwachsene führen zu lassen und von aussen gesetzte Regeln zu respektieren. Sowohl im Wahrnehmungs- als auch im motorischen Bereich verfügten die Kinder über grosse Erfahrung, viele feinmotorische Leistungen konnten koordiniert ausgeübt werden. Jedes Kind war beispielsweise in der Lage, am Ende des Kindergartens am Schuh eine Schleife zu binden. Sprachlich wiesen diese Kinder in der Regel keinerlei Defizite auf.»

Betrachte er dagegen die heutige Kindergartenarbeit, so stelle er gravierende Veränderungen in den Konzepten fest, die auf den Einzug des partnerschaftlichen Umgangs zurückzuführen seien. In den offenen Konzepten, die heute in vielen Kindergärten praktiziert werden, gibt es im Tagesablauf immer weniger Festlegungen: Rituale und Strukturen wurden für überflüssig oder einengend empfunden und abgeschafft. Das Kind soll frei wählen können, in welcher Gruppe es den Vormittag verbringen will, und die Angebote richten sich ganz nach den vermeintlichen Bedürfnissen des Kindes. Es herrscht das Prinzip der sogenannten «Neigungsgruppen».

Die Kindergärtnerin greift weniger in das Geschehen ein. Statt dem Kind über seine Schwierigkeiten hinwegzuhelfen, es anzuleiten und ihm eine Orientierung zu geben, sucht sie nach immer neuen Erklärungen für das fehlerhafte Verhalten des Kindes. Sie beschränkt sich häufig darauf, auffälliges Verhalten zu diagnostizieren und ihre Beobachtungen an Eltern oder Therapeuten weiterzuleiten. Ihre pädagogische Zurückhaltung und ihre ausgeprägt diagnostische Ausrichtung führen dazu, dass das Verhalten des Kindes pathologisiert wird und das Kind «in den Kreislauf von Therapien und Medikamenten eingeschleust» wird. Davor warnt der Psychiater Michael Winterhoff ausdrücklich.

… und in der Schule

Der partnerschaftliche Ansatz mit allen Nachteilen für das Kind hat sich auch in der Schule und hier besonders in der Grundschule durchgesetzt. Der Klassenunterricht, in dem der Lehrer ganz selbstverständlich eine Führungs- und Integrationsfigur war, wird immer mehr durch offene Unterrichtsformen verdrängt. Ein immer grösserer Teil des Unterrichts soll in «Freiarbeit» gestaltet werden, und die Schüler sollen selbst entscheiden können, was und mit wem sie arbeiten wollen. Der Lehrer soll als Lehrender in den Hintergrund treten und das selbständige Lernen des Schülers nur noch als Freund und Berater begleiten.

Viele Schüler sind überfordert. Sie haben in einem Unterricht ohne Struktur und Kontinuität auf sich alleine gestellt keinen Erfolg mehr und erleben die Schule zunehmend als sinnlos.

Selbstverwirklichung als Erziehungskonzept

Die Grundlage für diese Entwicklung sieht Michael Winterhoff «in den Erziehungskonzepten der siebziger und achtziger Jahre», die «ausgehend von den theoretischen Gesellschaftskonzepten der 68er-Generation ihre Hauptaufgabe in einem Schleifen des Autoritätsbegriffes sahen». Die Erziehungskonzepte der siebziger und achtziger Jahre hätten in den Köpfen der Erziehungsberechtigten ein Weltbild durchgesetzt, «das den einzelnen Menschen in seiner Individualität aus dem Bezugsystem Gesellschaft herausnahm und ihm nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zugestehen wollte.

Kinder sollten nicht mehr von Erwachsenen gesagt bekommen, was für sie gut und was schlecht sein könnte, das wurde vielfach als unzulässige Indoktrination interpretiert. Statt dessen sollten sie sich frei entwickeln, Erfahrungen sammeln, sich möglichst wenig von der Erwachsenenwelt beeinflussen lassen und auf diese Weise zu selbstbestimmten, freien Individuen heranwachsen.» Gestützt auf die irrige Annahme, Psyche bilde sich ganz von allein und stehe automatisch jedem Erwachsenen für eine sinnvolle Lebensbewältigung zur Verfügung, wurde zeitweise jede Form von Erziehung abgelehnt.

Während man dem Gesellschaftskonzept der 68er-Generation zugute halten muss, dass es nicht nur gegen die Autorität der Väter kämpfte, sondern gleichzeitig noch soziale Anliegen vertrat   – so zum Beispiel die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit oder nach Chancengleichheit für alle Kinder   –, verhalfen die Erziehungskonzepte der siebziger und achtziger Jahre dem Streben nach Selbstverwirklichung ohne jede soziale Rücksichtnahme zum Durchbruch.

Damit wurde die pädagogische Grundlage für die neoliberale Wirtschaftsordnung gelegt, die damals die Welt zu erobern begann. Fortan war keine Rede mehr von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Gemeinschaftssinn, Rücksichtnahme und gegenseitige Hilfe waren keine Werte mehr. Jedes Kind sollte ungehindert seinen eigenen Weg gehen können, in seinem eigenen Tempo lernen   – sich also selbst verwirklichen. Schneller, besser, schöner, reicher und mächtiger zu sein, waren die neuen Ideale. Auf diesem Boden entwickelte sich eine Elite, die sich nicht mehr dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt und bereit ist, über Leichen zu gehen, wenn es gilt, ihren eigenen Vorteil durchzusetzen. Auf der anderen Seite steht ein Heer von Verlierern, das um das tägliche Überleben kämpfen muss.

Was in den antipädagogischen Konzepten der siebziger und achtziger Jahre als Rezept zur Erlangung selbstbestimmter und freier Individuen gepriesen wurde, hat in der Wirklichkeit entwurzelte und desorientierte Kinder und Jugendliche hervorgebracht, die sich als Verlierer leicht manipulieren lassen und als Sieger andere manipulieren.

«Nur ausgebildete psychische Funktionen führen zu einem sinnvoll gelebten Leben des Einzelnen und können so zur Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft werden»

Es ist ausserordentlich verdienstvoll, dass der Psychiater Michael Winterhoff in einer Zeit, in der kindliches Fehlverhalten zunehmend als krankhaft angesehen und mit Medikamenten behandelt wird, die tiefenpsychologische Betrachtungsweise und den Erziehungsgedanken wieder ins Zentrum rückt. Als Psychiater (!) spricht er sich dagegen aus, die störenden Kinder zu pathologisieren und mit Medikamenten zu behandeln, und er ermutigt Eltern, Lehrer und Erzieher, ihre Aufgabe der Erziehung wieder wahrzunehmen.

Wenn er dabei in Anlehnung an Siegmund Freud von Psyche, Ich, Projektion, Symbiose oder von Phasen spricht, die das Kind in seiner Entwicklung durchläuft, so können Vertreter anderer psychologischer Richtungen und Pädagogen leicht von dieser psychoanalytischen Begrifflichkeit abstrahieren und dem Kern seiner Aussage zustimmen.

Der Grundgedanke, dass sich die seelische Befindlichkeit, der Charakter, das Gemeinschaftsgefühl, der Lebensstil, die Verbundenheit mit den Menschen, das persönliche Weltbild und vieles mehr in der Kindheit in einem langen Entwicklungsprozess bilden, ist allen gemeinsam. Unbestritten ist auch, dass «nur ausgebildete psychische Funktionen zu einem sinnvoll gelebten Leben des Einzelnen führen und so zur Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft» werden können und dass ganz bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Menschen diese Funktionen in ausreichender Reife ausbilden können.

Wenn Michael Winterhoff in seiner Untersuchung immer wieder darauf zu sprechen kommt, dass der Erwachsene gegenüber dem Kind «abgegrenzt auftreten» muss, so plädiert er damit nicht für eine strengere Erziehung. Abgrenzung hat für ihn weder mit Lieblosigkeit noch mit autoritärem Auftreten oder Geringschätzung des Kindes zu tun. Der Umgang mit Kindern sollte immer liebevoll sein. Das Setzen von Grenzen widerspricht «keinesfalls der Forderung nach einem liebevollen Umgang mit Nähe zum Kind». Erst beides zusammen sorge für die Ausbildung aller Fähigkeiten, die die Kinder zum Leben brauchen.

Auch die Konzepte von Kindergärten und Schulen müssten daraufhin überprüft werden, inwieweit sie heute noch ihrer Aufgabe, nämlich der Bildung des ganzen Menschen, gerecht werden.

Angesichts der ungeheuren Fehlentwicklungen, welche die kindliche Psyche in den letzten 20 Jahren erfahren habe, müsse das «Denken die Richtung wechseln!» «Wenn es uns gelingen sollte, wieder zu begreifen, dass ein führender, strukturierender Umgang mit Kindern keine mangelnde Achtung vor ihrer ‹Persönlichkeit› darstellt, sondern im Gegenteil gerade dazu dient, ihnen im geschützten kindlichen Raum die Möglichkeit zu geben, diese Persönlichkeit überhaupt erst zu entwickeln», wären wir schon ein ganzes Stück weiter als heute, schreibt der Autor.

Die Stärken des Buches liegen eindeutig in der Beschreibung des Missstandes, der sich in der Eltern-Kind- und der Lehrer-Schüler-Beziehung eingenistet hat. Es ortet diesen in der emotionalen Befindlichkeit der Eltern und der übrigen Erziehungspersonen, die in ihrem Selbstverständnis als Erzieher total verunsichert sind. Es ist dem Autor hoch anzurechnen, dass er klar benennt, was schiefläuft, und deutlich in die Zukunft weiterdenkt, was auf unsere Gesellschaft zurollt, wenn wir die Zeichen der Zeit nicht erkennen.

Nun ist es an uns, seine Warnung ernst zu nehmen und bewährte pädagogische Konzepte weiterzuentwickeln, damit unsere Kinder nicht zu Tyrannen werden.

Quelle: Nr. 38 vom 15. 09. 2008
www.zeit-fragen.ch

Lesen Sie auch: SOS Kinderseele   – «Es kommt zur Machtumkehr» Michael Winterhoff schlägt Alarm!
http://www.seniora.org/buecher-filme/buecher/391-sos-kinderseele-es-kommt-zur-machtumkehr-michael-winterhoff-schlaegt-alarm

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling