Das Glück fängt in der Familie an

12. April 2013

Den grössten Einfluss auf deren Entwicklung haben aber weiterhin die Eltern. 

von Margrit Stamm*

Das Glück fängt in der Familie an

Für mehr als zwei Drittel der Kleinkinder in der Schweiz ist Fremdbetreuung ein Teil ihres Lebens. Als wichtige Errungenschaft ermöglicht sie Müttern und Vätern, Kindererziehung und Berufstätigkeit zu vereinbaren. Trotzdem machen sich viele Eltern Sorgen über die Auswirkungen. Es versteht sich deshalb von selbst, dass Medienberichte hierzu ein grosses Echo auslösen (TA vom 26. Januar). Sie zeigen jeweils, wie emotional und polemisch die Debatte geführt wird. Es wird deshalb auch von «Krippenkrieg» gesprochen. Dabei geht es vor allem um Krippenkinder, die aggressiver seien, um Krippen, die nicht so gut sind, wie sie sein könnten, und um die Folgerung, dass Kleinkinder zu Hause betreut werden sollten.

Wie schädlich sind Krippen? 

Ist die Krippe tatsächlich schädlich? Hierzu gibt es eine grosse Anzahl an Untersuchungen, die tendenziell sowohl ein Ja als auch ein Nein zulassen. Es gibt zwei Lager in der Forschung: Während beide in Bezug auf die intellektuelle Entwicklung zum gleichen Schluss kommen   – dass sich fremdbetreute Kinder mindestens ebenso gut oder besser entwickeln als ausschliesslich zu Hause betreute -, unterscheiden sie sich im Hinblick auf das Sozialverhalten. 

Das eine Lager konstatiert, dass Krippenkinder in der Schule sozial kompetenter, selbstbewusster und durchsetzungsfähiger sind, sich weniger zaghaft verhalten und insgesamt kooperativer sind. Das andere Lager   – und zu diesem gehört der oft zitierte Londoner Kinderpsychologe Jay Belsky   – berichtet von Verhaltensschwierigkeiten und Bindungsstörungen. Demnach können Krippenkinder auch unhöflicher, ungestümer, gereizter und aggressiver werden.

Zusammengenommen schadet die Krippe dem Kind nicht, aber sie kann ein Risiko sein   – nicht mehr und nicht weniger. Kinder, die sicher an ihre Eltern gebunden sind, ein Urvertrauen entwickelt haben und sorgfältig eingewöhnt wurden, leiden kaum an einer zeitweiligen Abwesenheit der Mutter. Wenn die ausserhäusliche Betreuung qualitativ gut ist und nicht zu häufig wechselt, dann können Kleinkinder von ihr profitieren. 

Einen wesentlichen Punkt hat man in der ganzen Debatte bis anhin vergessen: dass die Wirkungen der Krippe nicht unabhängig von den Wirkungen der Familie beurteilt werden dürfen, sondern nur in ihrer Kombination. Positive und negative Einflüsse einer Krippe auf der einen und der Familie auf der anderen Seite können einander verstärken, schwächen oder ausgleichen und deshalb zu unterschiedlichen Entwicklungsverläufen führen. Weil zudem die Forschung klar gezeigt hat, dass der Einfluss der Familie grösser ist als derjenige der Fremdbetreuung, dürften die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten tendenziell eher in der Familie liegen. 

Aus diesen Gründen können vor allem Kinder aus belasteten Familien besonders von einer Krippe profitieren. Dabei handelt es sich um Kinder, deren Eltern nicht mit ihnen spielen, singen, reden, reimen, die keine Nähe zu ihnen herstellen, sondern sie vor die Playstation setzen oder vor den Fernseher. Solche Eltern geben ihrem Kind das Grundlegendste nicht mit, was für eine gesunde Entwicklung und eine erfolgreiche Schullaufbahn wichtig ist. Dazu gehören Gruppen- und Kontaktfähigkeit, Selbstständigkeit oder Durchhaltevermögen. 

Das Wichtigste ist jedoch die Sprache. Sprachliche Bildung erlernt ein Kind durch Interaktion, durch Beziehung, durch andere Kinder, durch gemeinsames Tun. Also genau das, was eine gute Krippe leisten kann. 

Reparatur nützt nichts 

Wir stecken Millionen in die kompensatorische, d. h. ausgleichende Förderung während der Schulzeit: in Stützunterricht, in Klassenwiederholungen oder in Integrationsmassnahmen. Doch meist ist dies zu spät: Gelder, die zur Reparatur eingesetzt werden, haben in der Regel einen bescheidenen Nutzen. Dass Kinder aus belasteten Familien oft bereits im Kindergarten versagen, ist nicht ein privates Schicksal, sondern ein gesellschaftliches Problem. Gerade in sie zu investieren, würde der Gesellschaft einen grossen Nutzen bringen. Und wäre billiger als jede wohlgemeinte Intervention und als jede Sozialvorsorge später. 

* Margrit Stamm ist Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg.

Quelle:  vom 15. 02. 2012
www.tages-anzeiger.ch

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