Brief aus Brasilien zur Bedeutung unserer Muttersprachen

Von Wolf Gauer, São Paulo / Brasilien*
06. August 2016
Liebe Schweizerinnen und Schweizer, hab grad auf infosperber Daniel Goldsteins Beitrag "Liebe Festgemeinde, verstehen Sie mich?" gelesen. Darf ich einmal den Teufel an die Wand malen?

Ja, Französisch und Italienisch fallen allmählich ganz europaweit unter den Tisch. Auch in Deutschland. Ich hatte noch das Glück, 6 Jahre Latein und 9 Jahre Französisch auf dem "Neusprachlichen Gymnasium" zu lernen. Britisches Englisch lief so nebenher, Altgriechisch und Russisch gabs im Wahlangebot. Mittlerweile ist Englisch überall die Nummer Eins, möglichst in der amerikanischen Alltags-Version von 300 Wörtern und mit penetrant aufgesetztem Kaugummi-Akzent.

Yeah, you guys, in absehbarer Zeit  könnte es sein, dass Deutsch- und Welschschweizer ganz plötzlich auf Englisch umschalten, wenn sie irgendetwas eingehender besprechen müssen. Denn so will es die angloamerikanische Weichenstellung: Anglophonie, angloamerikanischer "life style"   – identische, marktorientierte Verbraucher- und Verhaltensgewohnheiten. Die globalen "Eliten" haben den Ami-Slang ja längst adoptiert. TTIP will u.a. die Publikationsnormen europäischer Filme den US-amerikanischen unterwerfen. Am Tag des französischen Gesetzerlasses zur Verwendung des Französischen im öffentlichen Bereich taufte der französische Verkehrsminister den ersten französischen Kanaltunnel-Zug "Le Shuttle". 

Dass die französische Sprache  d e r  Agglutinationskern europäischen Seins und Denkens ist, sozusagen das beste Fass im europäischen Keller, scheint aus dem europäischen Bewusstsein zu schwinden. Amüsant immer wieder, aber auch traurig, wie man weltweit per "you guys" abgefertigt wird und das dann auch noch goutieren soll. Auch in brasilianischen Supermärkten quillt US-amerikanischer "sound" aus dem Lautsprecher, den natürlich keiner versteht. Aber das soll  ja auch niemand, wir sollen uns ja einfach "amerikanisch" fühlen, als Teil von "world's leading culture". 

Kürzlich hat ein junger schweizerischer Dozent berichtet, dass er seinen Studenten bei Zitaten Sprachquoten auferlegt, um das Überhandnehmen des Englischen zu bremsen. Ich bewundere seine Courage. Muss aber bemerken, dass vorm Zweiten Weltkrieg rund 40 % aller naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen in Deutsch erfolgten, während heute deutsche Arbeiten zuallererst als englischer "abstract" kursieren und danach als englischer Volltext. 

Die kulturelle Übergletscherung, die Verdrängung regionalen Fühlens und Seins erfolgt über die unbewusste Deklassierung unserer originären Sprachen und ihrer Varianten. Und das sage ich als geharnischter Gegner jeder Art von gewollter "Volkstümelei". Die Muttersprache   – mein Pfälzisch ("Pälzisch") zum Beispiel   – ist ein wohlig-warmes Bad, das aber immer mehr belächelt wird. Deutschlands erster Bundespräsident, Theodor Heuss, sprach noch ein wunderschönes "Honoratioren-Schwäbisch"; der Bayrische Rundfunk legte Wert auf regionale Tonart und Wortwahl. Das aktuelle kühle, spröde und insgesamt steril-hochnäsige Fernsehdeutsch und die "Verlautbarungssprache" von Merkel & Gauck sind mir zutiefst zuwider. Pflegen wir deshalb beides, unsere regionale Muttersprache und zugleich die Sprachen unserer Nachbarn. Bestehen wir darauf! Nicht nur zwecks Kommunikation sondern auch als Zeichen von Respekt und Miteinander. Und vermeiden wir das so bequeme wie ärmliche Umsteigen auf den flachen, nichtssagenden anglo-amerikanischen Weltsprech.

Herzlichst
Wolf

Wolf Gauer

Wolf Gauer

*Wolf Gauer ist Filmemacher und Journalist, lebt seit 1974 in Brasilien. Er schreibt für die Zf. Ossietzky und andere deutschsprachige Periodika.

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