«Ritalin verletzt die Menschenrechte» – Interview mit Professor Georg Feuser
Für den Sonderpädagogik-Professor Georg Feuser ist die Verschreibung von Ritalin ein Verbrechen. Lehrkräfte, die das Medikament fordern, würde er glatt vor Gericht stellen.
ein Interview von Tanja Polli
wir eltern: Sie sind ein vehementer Gegner von Ritalin. Warum?
Professor Georg Feuser: Es gibt keinerlei wissenschaftliche Grundlage, welche die Verschreibung von Ritalin für Kinder rechtfertigt. Im Gegenteil, es gibt beispielsweise Forschungsergebnisse, die vermuten lassen, dass Langzeitbehandlungen bei Kindern Defizite im Hirnstoffwechsel entstehen lassen und Parkinson hervorrufen könnten. Darum halte ich es für eine Menschenrechtsverletzung, einem Kind Ritalin zu verschreiben. Ein Erwachsener würde bei dieser Faktenlage zumindest eine Zweitmeinung verlangen, bevor er solch starke Medikamente schlucken würde, ohne wirklich krank zu sein.
Viele Eltern und Ärzte sehen ADHS durchaus als Krankheit …
Das ändert nichts daran, dass es bis heute keinen einzigen objektiven Beweis dafür gibt, dass das, was wir als ADHS diagnostizieren, überhaupt existiert. Wir haben uns einfach darauf geeinigt, dass Kinder, die sich so und so verhalten, krank sind und behandelt werden müssen. Man hält sich an die einfache Logik, wenn sich Kinder weniger störend verhalten, nachdem man ihren Dopaminstoffwechsel medikamentös beeinflusst hat, musste vorher ihr Dopaminstoffwechsel gestört sein. Das ist ein derart simples Erklärungsmuster, dass es mich graust. Kokain wirkt bei allen und niemand kommt auf die Idee, daraus zu schliessen, dass wir alle einen gestörten Hirnstoffwechsel haben.
Aber es ist doch nicht wegzudiskutieren, dass es immer mehr Kinder gibt, die Mühe haben, sich zu konzentrieren, die den Unterricht stören, die unruhig sind.
Natürlich nicht, wie sollte unsere Welt etwas anderes hervorbringen? Schon in einer ganz frühen Phase ihrer Gehirnentwicklung sind Kinder heute einer derartigen Fülle von Einflüssen ausgesetzt, dass in ihrem Hirn ein Chaos entsteht, das dann strukturell und funktional bewältigt werden muss. Ich gebe gern zu bedenken: Goethe hatte auf seiner Kutschenfahrt nach Italien an einem ganzen Tag weniger Sinneseindrücke zu verarbeiten als ein heutiges Kindergartenkind auf dem Nachhauseweg. Wir müssen uns doch ernsthaft fragen, ob das Leben, das wir heute führen, mit all den instabilen Beziehungen, dem Stress, dem Gerenne, kindgerecht ist und ob das sogenannte ADHS nicht einfach eine logische Reaktion darauf ist, was wir Kindern bieten?
Es gibt doch auch Kinder, die auf dem Land aufwachsen in intakten Familien und trotzdem ADHS diagnostiziert bekommen.
Ich möchte nicht bestreiten, dass es das gibt, aber ich bin höchst selten damit konfrontiert. Und mit dem Ausdruck «intakte Familien» bin ich äusserst vorsichtig. Es sind nicht immer offensichtliche Situationen, die ein Kind belasten. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass es eine genetische Disposition gibt, die ein Kind ungeheuer neugierig macht, wach, an allem interessiert, bleibt doch die Frage, wie ich auf ein solches Kind reagiere.
Ja, wie denn am besten?
Indem ich das vitale Wesen des Kindes nicht nur als Fehlleistung sehe. Indem ich es nicht zu stark sich selber überlasse, ihm klare Strukturen gebe, Sicherheit vermittle. Ein Kind, das stark impulsgesteuert ist, braucht einen klaren Rahmen und verlässliche Beziehungen, damit es sich nicht verliert.
Und wenns nicht klappt, sind die Eltern schuld …
Um Gottes willen, nein! Nichts liegt mir ferner, als Eltern Schuld zuzuweisen. Wir sind doch alle der Welt, die wir uns erschaffen haben, ein Stück weit nicht mehr gewachsen. Die Kinder sind einfach das verletzlichste Glied in der Kette und zeigen zuerst Symptome.
Was raten Sie den Eltern, die mit einem solch, sagen wir, lebendigen Kind in Schwierigkeiten geraten?
Ich bitte sie, einen Schritt zurückzutreten und sich eine Auszeit zu verschaffen. In erster Linie, um den Fokus von den «Defiziten» des Kindes wegzunehmen. Oft geht das nicht, ohne dass sich Eltern professionelle Hilfe holen und dies auch dem Kind ermöglichen. In vielen Fällen verändern auch unkonventionelle Methoden einiges, zum Beispiel die Montage einer Videokamera über dem Esstisch. Wenn sich Eltern dann einmal aus der Distanz beobachten können, ist plötzlich nicht mehr so klar, ob das Kind wirklich so schlimm ist, wie man das bisher wahrgenommen hat, und wer da wirklich wen ärgert und anschnauzt.
Oft sind es ja gar nicht die Eltern, die gerne Ritalin verschrieben hätten, sondern die Lehrkräfte, welche eine Behandlung fordern.
Ich weiss, gerade letzte Woche sassen weinende Eltern bei mir im Büro. Der Lehrer hatte ihnen mitgeteilt, dass das Kind Ritalin bekommen müsse oder von der Schule fliege. So weit sind wir heute.
Und, was haben Sie getan?
Ich habe ihnen geraten, sich hinter ihr Kind zu stellen und den Lehrer anzuklagen.
Und was ist mit den Familien, für die Ritalin ein Segen ist. Plötzlich hat das Kind Freunde, schreibt gute Noten …
Ja klar, vom Phänomen her ist das nicht zu bestreiten. Das kann aber genauso mit einem Placebo funktionieren. Es läuft doch so: Die Eltern stehen am Rand mit der Erziehung ihres Kindes. Der Arzt kommt und sagt: Das Kind hat ADHS. Uff, schon fällt mal ein Riesendruck von den Eltern und damit vom Kind. Es ist krank und niemand kann etwas dafür. Dann sagt der Arzt noch: Das kann man medikamentös behandeln und alle sind froh. Und schon hat sich das Bewusstsein der Eltern verändert – sie können jetzt endlich etwas für ihr krankes Kind tun. Das Kind nimmt Ritalin, ist jetzt «normal» und schon verhalten sie sich ihm gegenüber völlig anders. Die Eltern erleben sich wieder erzieherisch kompetent, und das Kind fühlt sich verstanden und angenommen. Würde dazu einmal geforscht, wären wir alle mehr als überrascht. Das schwör ich Ihnen!
Mag sein, aber kein Arzt verschreibt ein Placebo …
Denselben Effekt kann ich auch über Beratung und Coaching erreichen. Die veränderte Einstellung zum Kind ist es, die Berge versetzt und nicht das Medikament.
Fragt man Eltern, sagen die meisten, Ritalin sei für sie erst in Frage gekommen, nachdem sie alles andere ausprobiert hätten.
Dazu kann ich nichts sagen, ohne jeden Einzelfall zu kennen. Grundsätzlich stellt sich aber die Frage: Waren es die richtigen Angebote? Effiziente Therapieformen? Eltern müssen sehr vorsichtig sein. 90 Prozent dessen, was da als Therapie angeboten wird, ist bei näherem Hinschauen Scharlatanerie. Viele Angebote kosten die Eltern einen Haufen Geld und machen sie letzten Endes noch ohnmächtiger.
Aber auch wenn das mit der Therapie im Einzelfall klappt, bleiben die hohen Anforderungen der Schule, letztendlich der ganzen Gesellschaft bestehen. Daran etwas zu ändern, wird kaum gelingen.
Warum nicht? Schule ist historisch so geworden, wie sie ist. Sie muss nicht so bleiben und ist jederzeit veränderbar, wenn man das politisch will. Viele Neurowissenschaftler fordern seit längerem, dass sich das Lehren und Lernen in der Schule ändern muss. Man könnte die Sache also auch umdrehen und sagen: Es kommt uns offenbar nicht darauf an, dass an unserem Schulsystem ein paar Kinder psychisch und seelisch kaputt gehen …
Quelle: Heft 07/2010
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Zur Person:
Georg Feuser ist zurzeit Gastprofessor an der Universität Zürich. Davor war er zwei Jahrzehnte lang Lehrbeauftragter für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen und hat mehr als 30 Jahre lang eine eigene Praxis geführt. Seine Klienten waren Kinder und Jugendliche mit schweren Entwicklungsstörungen. Der Integrationsspezialist ist Autor diverser Sachbücher.
Kurzbiografie
Prof. Dr. Georg FEUSER, Jg. 1941, Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschullehrer, Sonderschulrektor a.D., ist seit 1978 Professor für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen. Er vertritt in Forschung und Lehre die Bereiche "Behindertenpädagogik, Didaktik, Therapie und Integration bei geistiger Behinderung und schweren Entwicklungsstörungen". Schwerpunkte sind u.a. "Pädagogik und Therapie bei Menschen mit Autismus-Syndrom" und "Allgemeine (integrative) Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik".
Prof. Dr. Feuser entwickelte im Rahmen der vorstehenden Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte eine umfassende Konzeption einer "Allgemeinen Pädagogik", die eine integrative Erziehung und Unterrichtung aller behinderten Kinder (also unabhängig von Art und/oder Schweregrad der Behinderung) in Regelkindergärten und Regelschulen erlaubt. Er hat diese über 10 Jahre auch in der Kindergarten- und Schularbeit erprobt und wissenschaftlich begleitet.
In seiner pädagogisch-therapeutischen Praxis befaßt er sich seit 3 Jahrzehnten – mit dem Ziel weitestgehender Integration – mit Fragen der Krisenintervention, Therapie und der Rehabilitation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit gravierenden Entwicklungsbeeinträchtigungen (z.B. Autismus und schwersten selbstverletzenden, stereotypen, aggressiven und destruktiven Verhaltensweisen), mit schweren geistigen (z.B. Koma, Apallisches Syndrom) und psychischen Beeinträchtigungen/Behinderungen (z.B. im Grenzbereich zur Psychose). Für diese Personen entwickelte er mit der "Substituierend Dialogisch-Kooperativen Handlungs-Therapie (SDKHT)" eine subjektorientierte, auf die Rehistorisierung der Betroffenen orientierte Basistherapie, unter deren Einsatz auch als "austherapiert", "therapieresistent" oder "nicht mehr förderbar", "nicht mehr rehabilitierbar" bzw. "nicht gemeinschaftsfähig" geltende Personen wieder handlungsfähig werden und selbstbestimmter und unabhängiger von Hilfe leben können.
Zahlreiche Veröffentlichungen, der Aufbau einer Fachzeitschrift und deren Schriftleitung über 18 Jahre, die Herausgabe einer Buchreihe und eines Jahrbuches (zusammen mit W. Jantzen) dokumentieren eine breite Forschungsarbeit in Theorie und Praxis.
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