Gemeinsam Einsam  – „AD(H)S ist keine Krankheit, sondern ein Sozialisationsdefizit“

Prof. Dr. Gerald Hüther entwickelt eine neue Sicht auf dieses strapazierte Krankheitsbild
26. Oktober 2016
Rund eine Million Kinder leiden in Deutschland am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ADS und Variante mit Hyperaktivität ADHS. Circa 300.000 Kinder nehmen alleine in Deutschland Medikamente, welche tief in den Gehirnstoffwechsel eingreifen. Der Verbrauch des Wirkstoffs Methylphenidat, der im ADS-Mittel Ritalin enthalten ist stieg von 34 kg im Jahr 1993 auf rund 1.735 kg im Jahr 2011, ein Anstieg von über 700 Prozent. Die Auswirkungen dieser Behandlung auf die spätere Hirnentwicklung sind bisher nur unzureichend erforscht.

Der prominente Hirnforscher Gerald Hüther entwickelt eine neue These die besagt, den betroffenen Kindern fehlt die Erfahrung des Gefühls der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen durch „shared attention“. Diese These liegt different zur vorherrschenden schulmedizinischen Lehrmeinung das AD(H)S eine angeborene Funktionsstörung des Gehirns, vor allem des Dopamin-Stoffwechsels sei.

Silke Steffen: Professor Dr. Hüther, Ihre Ansätze sind ja sehr konträr zu der allgemeinen Schulmedizin. Welche Erklärung haben Sie für die Entstehung von AD(H)S?

Hüther: Ein Faktor, der meiner Meinung nach von entscheidender Bedeutung für diese Kinder ist, ist die Erfahrung des „shared attention“. Diese Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit entsteht nicht von allein. Dazu muss ein Kind die Erfahrung machen, dass es wunderschön ist sich mit jemand anderem auf etwas zu freuen, etwas gemeinsam zu gestalten. Das geschieht z.B. beim gemeinsamen Anschauen eines Kinderbuches oder beim Beobachten von etwas Drittem. Durch „shared attention“ lernen wir, unsere eigenen Impulse zu kontrollieren, uns auf etwas gemeinsam einzulassen. Diese Erfahrung wird dann im Frontalhirn verankert.

Silke Steffen: Was erklärt uns das bei den AD(H)S Kindern?

 

Hüther: Machen Kinder diese Erfahrung nicht, bleiben sie in der personalen Beziehung hängen. Sie versuchen dann in Kindergarten und Schule im Kontakt mit anderen auf sich aufmerksam zu machen um diese direkte Beziehung herzustellen. Anderen Kindern, die kein Problem haben, mit anderen gemeinsam auf eine Sache zu konzentrieren, gehen sie damit auf die Nerven. Deshalb werden AD(H)S Kinder aus Gemeinschaften ausgeschlossen. Und als Antwort auf Ausgrenzung wenden die Kinder dann Bewältigungsstrategien an, die wir als ADS oder ADHS Symptome kennen.

Silke Steffen: Warum nimmt die Anzahl der AD(H)S Kinder Ihres Erachtens ständig zu?

Hüther: In vielen Familien herrscht Hektik und Stress und es wird dann oft zu wenig Wert auf gemeinsame Aktivitäten, Interessen, Ziele und Inhalt des Zusammenlebens gelegt. Man klammert sich aneinander, ohne den Fokus auf etwas außerhalb dieser direkten Beziehung zu legen. Das kann auch aus Gleichgültigkeit und Vernachlässigung passieren, etwa wenn jedes Familienmitglied für sich Medien konsumiert ohne das es ein gemeinsames Erleben gibt!

Silke Steffen: Eltern von AD(H)S Kindern scheinen Ihre Ideen noch nicht sehr zu teilen, wie sehen Sie das?

Hüther: Es gibt natürlich die einflussreichen Verbände und AD(H)S- Selbsthilfegruppen, die noch sehr konventionell denken. Viele Eltern fühlen sich von deren Argumentation angezogen. Das kann man auch verstehen. Viele Eltern haben Angst vor dem Vorwurf, dass ihre Erziehung für diese Kinder vielleicht nicht optimal war. Deshalb empfinden sie die Vorstellung entlastend, dass das Hirn ihres Kindes irgendwie „kaputt“ sei, oder ein genetischer Defekt vorliege und das mit Ritalin bzw. Psychostimulanzen zu beheben sei.

Silke Steffen: Dann wäre es also Ratsam an Eltern und auch Schulen und Kindergärten, das Leben mit den Kindern radikal zu ändern?

Hüther: Ich wünsche mir tatsächlich ein neues Verständnis für diese Kinder. Wie gesagt ist ihr Problem sicher keine Aufmerksamkeitsstörung und auch kein gestörter Hirnstoffwechsel, sondern eine mangelnde Sozialisationserfahrung. Familien sollten wieder mehr Wert auf gemeinsame Projekte legen. Wenn das in Familien schief gelaufen ist, oder nicht geleistet werden kann, müsste es in psychotherapeutischen, psychosozialen oder pädagogischen Interventionen nachgeholt werden. Aber eben als Unterstützung beim Erwerb der wichtigen sozialen Erfahrungen von geteilter Aufmerksamkeit und nicht als individuelles Aufmerksamkeitstraining.

Silke Steffen: Würden Sie noch kurz erklären wie Psychostimulanzen wie Ritalin wirken?

Hüther: Bei oraler Einnahme erfolgt keine Dopaminfreisetzung, sondern eine Hemmung der Dopaminwiederaufnahme. Die Folge ist, dass innere Impulse nicht mehr durch Dopamin verstärkt werden und so in Handlungen umgesetzt werden. Deshalb „funktionieren“ die Kinder dann besser. Obwohl sie Hunger haben, müde sind, sich bewegen oder ein anderes Bedürfnis stillen wollen, können sie einfach weiter „arbeiten“, ganz vereinfacht ausgedrückt.

Silke Steffen: Was würden Sie den nun den betroffenen Eltern raten?

Hüther: Sich sehr gründlich zu Informieren und alle Eindrücke zuzulassen. Unser Ziel müsste es sein, dass diese Kinder nach erfolgreich verlaufenden therapeutischen oder pädagogischen Interventionen, die Erfahrung machen und in ihrem Gehirn verankern konnten, dass sie in der Lage sind, ihre Impulse selbst zu steuern. Am wertvollsten ist diese Erfahrung, wenn sie in der Gemeinschaft mit den anderen gemacht werden kann. Auch wenn es für „Alle“ in der Familie ein Umdenken und auch „neu“ lernen bedeutet!

Dies ist ein Download von http://www.gerald-huether.de
Ein Gespräch mit Silke Steffen über die sozialen Hintergründe der Herausbildung von ADHS-Symptomen (2013)

Lesen Sie hierzu auch den brillanten Vortrag von Matthias Wenke: »ADHS   – unaufmerksame Einheitsdiagnose für Alles?»
https://www.seniora.org/de/erziehung/erziehung/adhs-ritalin/28-adhs-unaufmerksame-einheitsdiagnose-fuer-alles

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling

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http://www.gerald-huether.de/Mediathek/ADHS/Interview_Silke_Steffen.pdf