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ADHS Forschung zeigt: es gibt keine spezifischen Gene

Die Konferenz ADHS kritisiert die Behauptung, ADHS sei primär genetisch bedingt.
20. Februar 2019
Neue Forschungsergebnisse aus der Epi- und Molekulargenetik weisen auf komplexe Wechselwirkungen mit starken psychosozialen Kontexteffekten hin.

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Bereits vor einigen Jahren hat der amerikanische Forscher Jay Joseph herausgefunden, dass die Verhaltensgenetik bei ADHS keine Aussage über Genetik versus Umwelt zulässt. Alle Beobachtungen lassen sich auch vollständig durch nichtgenetische Einflüsse erklären.

Joseph resümiert: „Wir können nicht erwarten, dass die führenden Verhaltensgenetiker eingestehen, dass die Grundannahmen ihres Forschungsgebiets falsch sind, dass ihre hochgelobten Forschungsmethoden massiv fehlerhaft und durch Umwelteinflüsse konfundiert sind, und dass familiäre, soziale, kulturelle, ökonomische und politische Einflüsse es sind - und nicht genetische -, die psychiatrische Störungen und die Variation menschlichen Verhaltens hauptsächlich begründen“.

Dem lässt sich bis heute auch für die Molekulargenetik nichts hinzufügen. Von ihr erhoffte man sich eine Überwindung der Methodenschwäche der Verhaltensgenetik. Bobb u.a. haben 2004 alle über 100 Forschungsstudien zur molekularen Genetik der ADHS der Jahre 1991-2004 kritisch gesichtet, darunter drei genomweite Assoziationsstudien mit 94 Polymorphismen und 33 Kandidatengenen. Sie finden, dass ADHS eine sehr "komplexe" Störung mit vielfältiger, aber jeweils schwacher genetischer Beteiligung sei, und fassen dann zusammen, dass es nur für vier Gene einigermaßen gesicherte, aber nur bescheidene und auch nur statistische Zusammenhänge gibt. 64 % aller Genstudien zu ADHS waren in 13 Forschungsjahren ergebnislos geblieben.

In einer Metaanalyse von über 300 molekulargenetischen Studien zu ADHS stellen Li u. a.  abschließend fest: „Der gegenwärtige Forschungsstand genetischer Studien zu ADHS ist immer noch uneinheitlich und ergebnislos“, aber die Zukunft (und damit weitere Forschungsgelder) werde alles klären.

Plomin, der international bekannte Verhaltensgenetiker, konnte 2011 keinen einzigen replizierten, also in Nachfolgestudien bestätigten, Genfund anführen. Es müsse diese Erblichkeit auch molekulargenetisch aber trotzdem geben, man habe sie bisher nur noch nicht entdeckt, wird gesagt.

 Einer der führenden deutschen ADHS-Vertreter ist T. Banaschewski. Vor nunmehr 13 Jahren stellte er fest, dass die bisherige Forschung die Frage, ob es ADHS als von anderen unterscheidbare spezifische Störung überhaupt gibt, im Unklaren lasse. Aus seiner damaligen Forschungsübersicht bisheriger Vergleiche von ADHS mit anderen neuropsychologischen, neurobiologischen und genetischen Korrelaten zog er den ernüchternden Schluss, dass es bisher keine ADHS-Spezifität gibt. Auf Deutsch: ADHS gibt es gar nicht. Neue Forschungen bestätigen dies nunmehr.

In zwei umfangreichen aktuellen Genstudien zeigte sich nämlich: Es gibt einen großen genetischen Überlappungsbereich von ADHS mit anderen psychiatrischen Krankheiten.

Es gibt also keine spezifischen Gene für ADHS.

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Wissenschaftler des Brainstorm Consortiums unter Beteiligung von Humangenetikern des Universitätsklinikums Bonn haben dies kürzlich bestätigt. An der groß angelegten Studie arbeiteten mehr als 500 Forscher aus aller Welt. Ergebnisse der Arbeit hat jetzt das Fachjournal Science vorgestellt. Es zeigte sich, dass sich 25 verschiedene psychiatrische Krankheiten inkl. ADHS in Bezug auf ihre Genetik im Grunde nicht unterscheiden lassen.

Dabei ist die gemessene genetische Beteiligung bei psychiatrischen Krankheiten sowieso sehr klein, in bisherigen Studien beläuft sie sich auf ca. 5-10 % der Gesamtvarianz, 90% der Varianz bleiben also genetisch unerklärt.

Auch eine zweite internationale Forschergruppe unter Demontis hat kürzlich einige Gene identifiziert, die mit ADHS assoziiert sind, aber auch sie sind mit sogar ca. 200 anderen Erkrankungen und Persönlichkeitsmerkmalen verbunden, z. B. auch mit niedrigerer Intelligenz oder zerebralen Entwicklungsstörungen.

Die gefundenen Genvarianten können nach Berechnungen der Forscher ca. 20 % der genetischen Prädisposition erklären. Also auch in dieser sehr umfangreichen Studie bleiben 80% der Varianz unerklärt.

Auch A. Thapar betont in einer Übersicht über die genetischen Befunde der letzten 5 Jahre die große Überlappung von ADHS mit Autismus, geistiger Behinderung und vielen anderen psychiatrischen und nichtpsychiatrischen Störungen, sogar mit Lungenkrebs (was selbstredend nicht bedeutet, Kinder mit ADHS-Diagnose unterlägen einem erhöhten Lungenkrebsrisiko). Man könne also ADHS nicht länger als eigene Krankheit betrachten.

Die Ergebnisse lassen sich damit vergleichen, dass man zunächst Fieber als eigene, spezifische Krankheit erklärt und dann herausfindet, dass es lediglich ein unspezifisches, multikausales Symptom darstellt. So wenig man also von einer spezifischen Fieberkrankheit sprechen dürfte, darf man auch nicht von einer spezifischen ADHS sprechen.

Eine aktuelle Übersichtsstudie zu den Fortschritten der Molekulargenetik der ADHS in China von Qian u. a. äußert sich selbstkritisch, indem sie u. a. herausstellt, dass die Ergebnisse insgesamt widersprüchlich und enttäuschend sind. Es gebe mehrere mögliche Gründe für das Versagen von GWAS- und Kandidatengenstudien, Gene zu identifizieren, die hoch mit ADHS assoziiert sind: So unterscheiden die in den verschiedenen Studien untersuchten Probanden sich stark in Bezug auf Alter, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Komorbidität und diagnostische Merkmale. Auch werden Gen-Gen- sowie vor allem Gen-Umwelt-Wechselwirkungen nicht berücksichtigt. Ein eher schüchterner Verweis auf die in der ADHS-Forschung weitgehend ausgeblendete Bedeutung der Epigenetik.

Die neueren Erkenntnisse der Epigenetik lassen aber die gesamte Genetik zu einem Teilbereich des Hirnstoffwechsels werden und differenzieren die bisherigen Kenntnisse. Es ist Tatsache, dass die Umsetzung von genetischen Informationen unter dem Einfluss der Umwelt geschieht. Der damit einhergehende Fortschritt besteht darin, dass nicht mehr behauptet werden kann, es ginge bei der Genetik um die Vermittlung vorgegebener Codierungen - die klassische Vorstellung von “Erblichkeit”. Ein Gen kann noch so viel Pathologie enthalten: nur wenn es aktiviert wird, kommt es zur Wirkung. Damit gewinnen aktivierende oder abschaltende Einflüsse - sprich: Umweltfaktoren - entscheidende Bedeutung.

Aber die Erkenntnisse der Epigenetik sind weit davon entfernt, eine neue Phase zur Entschlüsselung des Genoms einzuleiten. Im Gegenteil: sie machen deutlich, dass die Genetik mit ihren unendlich vielfältigen wechselseitigen Wirkfaktoren den Gesetzen der Komplexität unterliegt und das Geschehen daher nicht durch die Eigenschaften einzelner Elemente, sondern durch deren Bedeutung im jeweiligen Kontext bestimmt wird.

Angesichts dieses Erkenntnisstandes ist es erstaunlich, dass in der Fachliteratur über die Verursachung psychopathologischer Krankheits-“Bilder” wie „ADHS“ häufig noch die klassische Vorstellung von “Erblichkeit” vertreten wird, sobald familiäre Häufung und möglicherweise noch molekulargenetische Auffälligkeiten zu beobachten sind. Offenbar fällt es schwer, sich auf die Verunsicherung durch nichtlineare Systeme einzulassen. Diese Angst scheint so schwer zu wiegen, dass sie wissenschaftliche Befunde ausblenden lässt. Dies gilt nicht zufällig auch für die Thematik der Nichtlinearität in der Neurobiologie. Es empfiehlt sich allen Wissenschaftlern, Fachleuten und Betroffenen gleichermaßen, sich mit wirklichkeitsnäheren, komplexen Wechselwirkungsmodellen auseinander zu setzen.

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Die Konferenz ADHS ist ein Zusammenschluss von namhaften Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS einsetzt.
Konferenz ADHS c/o Freies Bildungswerk Rheinland Luxemburger Straße 190 50937 Köln www.konferenz-adhs.org
Für Fragen steht zur Verfügung: Pascal Rudin, Generalsekretär der Konferenz ADHS und Repräsentant an den Vereinten Nationen für Kinderrechte pascal.rudin@konferenz-adhs.org

Quelle: https://konferenz-adhs.org/de/presse/pressemitteilungen/243-adhs-forschung-zeigt-es-gibt-keine-spezifischen-gene

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Kommentar seniora.org

Welche Freude!

Nun ist es endlich wissenschaftlich bestätigt, was viele Forscher seit langem wussten, oder zumindest ahnten: ADHS ist keine Erbkrankheit. Kein ADHS-Gen, Nichts.

Die natürliche Folge davon ist die Frage, was ist es dann, wenn es kein ADHS-Gen gibt?  Die Antwort kann nur lauten: Wenn also der Säugling ohne ein angeborenes ADHS auf die Welt gekommen ist, dann ist ADHS eine Folge des Erziehungsgeschehens in der Familie. Als Lösung würde nun allgemein eine psychologische Familientherapie zum tragen kommen - und kein Medikament! Eine Therapie, die heute bereits häufig mit Erfolg ins Auge gefasst wird.

Allerdings ist es für viele Eltern nicht leicht den Gedanken in’s Auge zu fassen, dass ihr Erziehungsstil Symptome wie die des ADHS ausgelöst haben könnte. Mangelnde Kenntnisse verhindern eine realistische Betrachtung und Eltern lassen sich allzu schnell damit beruhigen, dass die Vergabe eines Medikaments diese vermeintliche Krankheit heilen würde.

Ob nun wohl die unsägliche epidemiologisch angewachsene Ritalinabgabe an Kinder und Jugendliche aufhört? Ich fürchte eher Nein! Zumindest vorläufig wird sich daran nichts Wesentliches ändern. Ritalin ist ein Milliardengeschäft, das darf man nicht vergessen. Darauf wird die Pharmaindustrie kaum freiwillig verzichten.

Es ist allerdings zu wünschen und zu hoffen, dass die nun auf dem Tisch liegende wissenschaftliche Erkenntnis in Ärztegesellschaften, an Hochschulen, bei Kinderärzten, bei Psychologen und bei Pädagogen eine lebhafte Diskussion und Revision des Bisherigen zur Folge hätte und damit ein anderer Blick auf das Phänomen ADHS ermöglicht wird. Somit sind auch die Medien aufgerufen, bei der Verbreitung dieser positiven Nachricht mitzuhelfen.

Nichts ist mehr zu wünschen, als dass in Zukunft keine Kinder und Jugendlichen mehr eine «Diagnose» bekommen und dann mit dem diffusen Gefühl durchs Leben gehen:“In meinem Kopf stimmt etwas nicht“.

Darüber hinaus wird die psychiatrische Fachwelt, insbesondere die Kinder- und Jugendpsychiatrie, nicht darum herum kommen, sich demnächst mit der Frage zu beschäftigen, weshalb sie mit der Evolution der Diagnostischen Manuale — DSM5 und ICD-10 — zugelassen hat, dass immer mehr von dem, was in der Entwicklung des Menschen einmal als „normal“ galt, heute in die Sphäre des Pathologischen verschoben wurde. Um einige Beispiele zu nennen:

Aus einem möglichen Trotzverhalten eines Kindes — im Rahmen der Ich- und Willensbildung — wird die Diagnose „Oppositionelles Trotzverhalten“. Die Medikation mit dem Antipsychotikum „Risperdal“ wird ab dem 4. Lebensjahr vorgenommen.

Aus der Pubertät, in der Stimmungsschwankungen völlig normal sind, wird die Diagnose „Bipolare Störung“ und eine medikamentöse Behandlung. Schon Goethe kannte diese Zeit als „Himmel hoch jauchzend, zu Tode betrübt“.

Aus normalen Rückzugstendenzen im Rahmen der Adoleszenz wird eine Störung etwa aus dem „Asperger Spektrum“.

Aus normalen Unsicherheiten im sozialen Bereich mit ganz normalen Ängsten im frühen Erwachsenenalter wird eine „Sozialphobie“, die mit Medikamenten behandelt wird.

Aus ganz normalen Unsicherheiten im Erwachsenenalter wird erst recht die Diagnose „Sozialphobie“.

Aus der ganz normalen Reaktion einer Frau, die in einer beziehungslosen Beziehung keine oder „zu wenig“ Lust auf Sexualität empfindet, wird die Diagnose „sexuelle weibliche Dysfunktion“ — die natürlich auch mit Medikamenten behandelt werden kann ...

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen ...

Margot und Willy Wahl

Siehe auch

ADHS Kind schreit Rubikon

Die Hyperaktivitäts-Lüge

Forscher bestätigen, dass es kein ADHS-Gen gibt.

von Willy Wahl

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling

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