Viel Krieg, kaum Frieden: Was ist in der Menschheitsgeschichte schief gelaufen?
Festnahmen und Morde durch das Regime in Iran, Angriffskrieg in der Ukraine, tote Kinder und Erwachsene in Israel und im Gazastreifen – an vielen Orten auf der Welt kämpfen aktuell Menschen gegen Menschen und unterdrücken einander. Das haben sie schon immer getan, heißt es da schnell. Der Historiker Kai Michel und der Anthropologe Carel Van Schaik halten dagegen. Ihnen zufolge haben wir Menschen die meiste Zeit unserer Geschichte solidarisch und in Frieden miteinander gelebt – bis etwas in der Evolution gehörig schief gelaufen ist.
In ihrem Buch Mensch Sein: Von der Evolution für die Zukunft lernen arbeiten die Autoren auf, wie es zu den aktuellen Verhältnissen kommen konnte. Es erscheint am 17.10.2023.
Herr Michel, in Ihrem Buch schreiben Sie und Ihr Kollege: „Die Menschen führen aktuell eine Existenz im Ausnahmezustand.“ Was meinen Sie damit?
Unser heutiges Leben ist menschheitsgeschichtlich gesehen absolut außergewöhnlich. Wir sehen eine Welt, in der die soziale Ungerechtigkeit enorm ist, die von Konkurrenz beherrscht wird, in der der Hyperkonsum den Planeten ruiniert. Kriege sind an der Tagesordnung und wir werden von Pandemien heimgesucht. Solches Unheil erscheint uns als menschlicher Normalfall – 99 Prozent der Menschheitsgeschichte sah die Welt aber völlig anders aus.
Gewaltfrei und harmonisch?
Zumindest hatten Auseinandersetzungen und Gewalt viel kleinere Dimensionen. Homo sapiens ist eigentlich eine hyperkooperative, egalitäre und solidarische Spezies. Unsere Vorfahren lebten in kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern, nur die gegenseitige Unterstützung sicherte das Überleben. Das war gut 300.000 Jahre lang unser evolutionäres Erfolgsrezept. Wissenschaftlich sind wir heute in der glücklichen Position, dass wir dank evolutionärer Anthropologie, Archäologie, Ethnografie und Archäogenetik ein immer genaueres Bild der Vergangenheit zeichnen können. Und das zeigt, was für ein Gamechanger die neolithische Revolution war…
…die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht vor rund 12.000 Jahren.
Genau. Sie führte dazu, dass Menschen sesshaft wurden, die Bevölkerung stark zunahm, Privateigentum an Land und Vorräten sowie Konkurrenz entstand und die soziale Kontrolle der Gruppen entfiel. Vor etwa 5.000 Jahren nahm das alles extrem an Fahrt auf. Despoten etablierten sich, die sich auf Armeen stützten, Staaten und große anonyme Gesellschaften mit gewaltigen sozialen Unterschieden waren die Folge. Die Archäologie spricht eine klare Sprache: Hinweise auf regelmäßige Massaker und erste Kriege gibt es erst in der sesshaften Welt des Neolithikums; stehende Armeen sind eine Erfindung der staatlichen Welt.
Die neolithische Revolution hat soziale Ungleichheit, Unterdrückung und Krieg also erst hervorgebracht?
Ja, und dadurch leben wir heute in einer Welt, für die wir, wenn man so möchte, nicht gemacht sind. Das muss man wissen, wenn man die Tücken unserer modernen Alltagswelt verstehen will. Und tatsächlich auch, um sich selbst besser zu verstehen.
Das klingt so, als wäre etwas von außen gekommen und hätte uns überrollt – aber es waren doch Menschen, die diese Veränderungen vorangetrieben haben.
Natürlich sind die Prozesse, die uns in die aktuelle Situation gebracht haben, menschengemacht, aber sie wurden nicht gezielt auf den Weg gebracht. Die Menschen sind mit Beginn des Ackerbaus in etwas hineingeschlittert, von dem sie unmöglich wissen konnten, wie es sich einmal entwickelt. Das neue sesshafte Leben war anfangs sicher angenehmer als das ständige Herumziehen der Jäger und Sammler. Dass daraus Kriege entstehen, konnte niemand ahnen. Und als die Konsequenzen sich zeigten, gab es kein Zurück mehr. Tatsächlich handelt es sich in den Anfängen um eine Tragödie ohne Schuldigen.
Das ist auch eine der wichtigsten Aussagen in Ihrem Buch. Der Mensch sei eben nicht schuld an der Misere, er wurde aber immer zum Sündenbock gemacht. Wie meinen Sie das?
Menschen suchen für ungewöhnliche Umstände Erklärungen. Wir stellten also immer schon Theorien auf, was die Ursache für Krankheiten, Katastrophen oder Kriege gewesen sein könnte – und das über Jahrhunderttausende hinweg ohne jegliche wissenschaftliche Kenntnisse. Das produzierte Unterdrückungdiskurse wie „Läuft etwas in der Welt schief, liegt das an der Schwäche oder Sündhaftigkeit der Menschen.“ Auf diesen von den Religionen getragenen Diskurs stützen die Despoten nachdem Staaten entstanden waren fortan ihre Macht. Das Narrativ war: Die Menschen brauchen eine harte Hand und müssen ihre Sünden beichten. Sozialdarwinistische Ideen des 19. Jahrhunderts schoben die Schuld auf die Natur: Es herrsche unter Menschen das Recht des Stärkeren und der Kampf aller gegen alle – Gewalt sei nun mal unser Naturell, so die falsche Annahme.
Auch andere Ungerechtigkeiten wurden so legitimiert. In unserem letzten Buch Die Wahrheit über Eva zeigen wir das im Detail am Beispiel der Unterdrückung von Frauen. So gelang es, unter Berufung auf Gott oder die Natur, über Jahrtausende, die Ungerechtigkeit des Patriarchats als Normalität erscheinen zu lassen – obwohl Männer und Frauen in der Steinzeit gleichberechtigt waren.
Auch der Kapitalismus setzt darauf. Wir seien alle gewinnmaximierende Egoisten, lautet dessen Grundüberzeugung. Heute schlägt daraus noch eine ganze Selbstoptimierungsindustrie Kapital, die auf dem kapitalistischen Mythos basiert, dass in der Konkurrenz nur die Besten und Stärksten bestehen. Sie suggeriert uns, dass wir selbst schuld sind, wenn wir arm oder depressiv sind und nur hart arbeiten müssen, um aufzusteigen und glücklich zu werden. Doch das ist ein Mythos. Und das müssen wir verstehen.
Deshalb auch der Titel Ihres Buches: „Von der Evolution für die Zukunft lernen“.
Richtig. Wir wollen das Wissen zur Verfügung stellen, dass in der großen Perspektive, auf die gesamte Menschheitsgeschichte bezogen, soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung Ausnahmezustände sind. Aus der Evolution können wir lernen, dass es eben nicht in der Natur der Menschen liegt, Kriege zu führen und unsozial zu sein. Wir sehen in den letzten Jahrhunderten in vielen Bereichen eine Emanzipation, ein Zurück zu den eher gleichberechtigten und demokratischen Verhältnissen, wie sie der Natur der Menschen entsprechen, weil sie eben 99 Prozent der menschlichen Evolution bestimmten.
Jetzt wo wir dank der Wissenschaft die tatsächlichen Zusammenhänge durchschauen, können wir diese Prozesse weiter vorantreiben. Und wir können verstehen, dass es nicht an uns liegt, wenn uns die moderne Welt absurd erscheint: Es sollte nicht überraschen, dass höchst sozialen Wesen wie uns die zunehmende Vereinzelung und radikale Wettbewerbsorientierung mental Schwierigkeiten bereitet, wenn nicht gar in Depressionen stürzt. Dabei bringen Menschen eigentlich sehr viel mit, um in freieren, gerechteren und demokratischen Verhältnissen zu leben.
Im Angesicht aktueller Entwicklungen in Europa scheint das kaum zu glauben. Neben Krieg und Gewalt sind ungleiche Machtverhältnisse wie Seximus und Rassimus und rechtsextremes Gedankengut noch lange nicht besiegt.
Natürlich sind Gesellschaften noch ungerecht, rassistisch und sexistisch. Aber eine entscheidende Sache ist anders: Heute fehlt solchen Ansichten die Legitimation. In Bezug auf Sexismus beispielsweise gibt es frauenfeindliche Gruppen wie Incels; der große Unterschied ist aber: Früher konnten sich solche Gruppierungen auf die Kirche oder die Biologie berufen und sich so legitimieren. Auch bei rassistischem Gedankengut war das so. Heute zeigt der wissenschaftliche Konsens aber deutlich: Es gibt keine Grundlage für die Unterdrückung von Frauen oder die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft. Noch vor wenigen Jahrzehnten war das anders.
Dennoch heißt es in ihrem Buch, dass „die Demokratisierung noch nicht abgeschlossen ist“. Was meinen Sie damit?
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