Warum “Zürcher Schule”?

Votum und Diskussionsbeitrag von Friedrich Liebling an der Arbeitstagung* 1967
von Friedrich Liebling
19. Juli 2017
Gestern in der Diskussion ist etwas vorgefallen, und ich kann nicht umhin, das hier zu erklären. Und zwar auf den Vortrag von Herrn H. hat jemand bezweifelt, dass Bultmann und seine Schüler und die anderen, die sich in Gegensatz zur Kirche stellen und die Bibel in gewissem Sinne reformieren, dass sie das Mittel der Mythologie als etwas Unwahres entfernen wollen, als etwas das nicht stimmt, als bewusste Irreführung darstellen wollen.

Ich möchte dagegen Stellung nehmen. So kann man das nicht machen! Das ist nicht der Fall. Das können wir nicht sagen. Das wäre eine Ungerechtigkeit. Heute ist die Kirche soweit, dass sie ihre Stellung verbessern will. Aber das ist nicht bewusst. Z.B. in der katholischen Kirche ist es so, das ist eine Einheit, und die macht ihre Politik. Im Protestantismus ist es so, dass hier hunderte von Richtungen, Sekten bestehen, Meinungen verschiedener Art. Und die sind nicht gewollt, das ist nicht bewusst, als Irreführung, sondern das ist die Meinung.

Zur religiösen Meinung gehört es, dass sie Auswege suchen, weil sie sich nicht zurechtfinden. So sehen wir nicht nur z.B. die Rudolf-Steinerbewegung und andere philosophische Erklärungen. Die Menschen suchen nach einer Erklärung. Die alte Auffassung über die Religion, die genügt eben dem Menschen heute nicht mehr. Und da er sich nicht ganz befreien kann, sucht er Auswege, legt er die Bibel anders aus. Sie wollen den Mythos entfernen, die Mythologie, und sich eine andere Religion schaffen. Und das wird bei Bultmann und seinen Schülern der Fall sein, dass das eine ehrliche Sache ist. Sie gehen sehr weit; und die Kirche, die offizielle Kirche, kann sich nicht einlassen, nicht so leicht einlassen, auf die Erklärung von Bultmann.

Und dann möchte ich noch Stellung nehmen zu der Meinung, dass wir uns zu wenig dem gesellschaftlichen Problem zuwenden. Ich möchte denen sagen, dass sie etwas Geduld haben. Es geht nicht so, dass man nach seinem Gefühl, ohne dass man die Geschichte kennt, Stellung bezieht.

Tatsache ist es, das wir noch immer in gewissem Sinne im Mittelalter leben. Wir sind nicht los das mittelalterliche Denken und Fühlen. Die große Masse der Menschen lebt noch in diesem Zustand. Wenn der Aberglaube auch nicht so groß ist   – wir leben in der Zivilisation, die Erfolge in den Naturwissenschaften haben das Problem etwas erhellt   – aber die Menschen denken noch das alte Zeug, gehen in die Kirche, sie beten an Götter, Teufel, Engel usw. Und wir sind auch Mitglieder, wir sind Opfer dieser Meinung, dieser Erziehung, und wir müssen da mit großer Vorsicht vorgehen.

Es ist ja nicht so lange her, dass der Mensch sich befreit hat   – in gewissem Sinne. Durch die naturwissenschaftliche Erklärung hat er angefangen, sich die Welt anders zu erklären. Da ist z.B. gestern das kopernikanische Gesetz genannt worden. Vergessen wir nicht, dass es 300 Jahre gedauert hat, bis die Kirche sich entschlossen hat, das als richtig zu erklären, dass jede Neuerung im naturwissenschaftlichen Problem bekämpft worden ist, bis heute.

Vor einigen Jahrzehnten, in Amerika   – das ist gestern auch hier erwähnt worden   – haben sie einem Lehrer den Prozess gemacht, weil er nach Darwin den Schülern die Entstehung der Arten erklärt hat. Wir sind auch belastet.

Zufälligerweise kommen wir zusammen und haben uns eine neue Sicht errungen, eine andere Sicht. In unserem tiefsten Innern sind wir nicht frei. Wir sind nicht frei! Verstandesgemäß versuchen wir, das fortschrittliche Denken zu erfassen, aber in unserem Seelenleben, in unserem Gefühl leben wir noch im Mittelalter. Wir denken und fühlen, wir träumen das alte Zeug.

Also, es gilt nicht zu marschieren, sondern wenn wir die Geschichte fragen, haben wir erlebt, dass ohne Psychologie alles zugrunde geht, dass alles versandet, dass kein Erfolg zu sehen ist. Und die Mahner, die heute auftreten und uns sagen, wir sollen uns den gesellschaftlichen Problemen zuwenden, möchten wir mahnen, dass sie etwas vorsichtiger sein sollen: Denn mit wem sollen wir die Gesellschaft umgestalten? Wer soll das machen? Das ist die Frage.

Und der Standpunkt der Psychologie ist etwas ganz neues, etwas noch nicht Erarbeitetes. Vergessen wir nicht: Es sind einige Jahrzehnte erst, nach dem 1. Weltkrieg hat die Bewegung einen Aufschwung bekommen.

Wenn ich hier verraten darf, dann sind wir in Wien in den Versammlungen in den Vorlesungen einige Menschen gewesen. Dann sind drei gekommen, als eine Psychologin gesprochen hat über das Erziehungsproblem. Es war in der Zeitung angekündigt. Das waren Versuche, den Eltern das Erziehungsproblem nahe zu bringen   – waren drei Mütter gekommen. So haben wir das erlebt nach dem 1. Weltkrieg.

Und heute müssen wir das so sehen, dass die Psychoanalyse Freuds in eine Zeit gekommen ist, wo das finstere Mittelalter wirklich noch bestanden hat. Ich weiß nicht, ob sich die junge Generation das genau vorstellen kann: Österreich-ungarische Monarchie, katholisch, schwarz bis in die Knochen, der Kaiser Franz-Josef an der Spitze. Wer kann sich das genau erklären von den jungen Menschen, was das heißt!? Außer dem, der katholisch erzogen worden ist, im Internat z.B., in katholischen Gegenden; sonst, die anderen werden sich sehr schwer da hineindenken können.

Und wer waren die Zuhörer, wer waren die Schüler von Freud? Menschen, belastet und gefangen im mittelalterlichen Denken und Fühlen: religiös, national, unwissend   – das waren die Schüler von Freud. Und Freud selber, wie schon gestern erwähnt wurde, wie wir das wissen   – das meine ich nicht als Polemik   – sondern, Freud selber hat nicht viel gewusst über das gesellschaftliche Problem.

Und nun haben Ärzte sich angenommen der Sache und haben das psychoanalytische Problem weitergeführt und versucht es in der Praxis anzuwenden. Und bis heute ist das geblieben. Es gibt heute noch orthodoxe Freudianer, die nach der alten Methode   – indem sie den Menschen auf den Diwan ablegen   – versuchen ihm dann Hilfe zu leisten in seiner seelischen Not.

Und bei denen handelt es sich nur um das persönliche Moment, das Kulturelle kommt nicht in Frage. Und Freud hat seine Arbeiten erst verbessern können, indem er die Erkenntnisse von Adler, von Alfred Adler, sich zunutze gemacht hat. Er hat das umbenannt. Wir haben das erlebt, wir haben das gesehen. Er hat einen anderen Namen gegeben   – hat Rückzug geblasen und hat sich dem angenähert.

Freud selber hätte keine große Wirkung gehabt. Dass überhaupt die Psychoanalyse, dass Freud überhaupt Anklang gefunden hat in der Welt, ist ja darauf zurückzuführen, dass das mittelalterliche Prinzip verblasst ist   – der Mensch hat sich entfernt vom Himmel und hat nach Auswegen gesucht, hat erkannt, dass er den Menschen nicht als etwas von oben Gegebenes betrachten kann, dass er sich seiner Seele, seinem Gemüt zuwenden muss.

Und heute haben sich viele Psychoanalytiker, viele Schüler haben sich von Freud abgewendet. Sie bejahen ihn, wie wir alle ihn bejahen   – er hat etwas geleistet, er hat einen Fund gemacht   – aber es besteht eine Neo-Psychoanalyse. Und diese Neo-Psychoanalyse bearbeitet auch nur das individuelle, das persönliche Moment.

In Amerika z.B., in New York sind es 10   – 12'000 Psychologen. Es gibt keinen der das kulturelle Problem in Anspruch nimmt   – mit Vorsicht muss ich das sagen, vielleicht die, die wir nicht wissen   – sondern er wird versöhnt mit dem Meister, er wird versöhnt mit der heutigen Gesellschaft und dann wird er entlassen.

Also so schaut eben das Problem der Tiefenpsychologie aus. Und ich muss sagen, dass wir uns im nächsten Semester damit befassen müssen, wie wir uns da eigentlich einstellen sollen. Wenn wir z.B. hier immer wieder hören: »ja, die Tiefenpsychologie ist..., wenn wir die Tiefenpsychologie, dann..., dann das und jenes.« Große Probleme werden da entstehen. »Die Tiefenpsychologie sagt...« Das ist ein Fehler, das stimmt nicht! Die Tiefenpsychologie ist bis heute noch ein Problem der Ärzte, der Ärzte, die den Menschen in seinen persönlichen Motiven helfen wollen. Das kulturelle Problem besteht nicht.

Also wer ist der Psychotherapeut? Wer ist der Psychologe?: Der Mensch der religiös, national erzogen wurde, der dem Menschen hilft, und dann hilft er auch z.B. den Soldaten, dass sie gute Kämpfer sind. Das was uns gestern der Herr G. vorgelesen hat aus der Zürcher Zeitung, das betreiben auch die Psychologen. Und Hitler haben die Psychologen auch bejaht. Die Deutschen Psychologen, etwa 600 waren dem Verband angeschlossen, haben Hitler bejaht. Keiner von den Psychologen hat Stellung genommen gegen Hitler. Also erwarten wir nicht viel von den Psychologen: sind Juden, sind Christen oder von einer anderen Sekte, die weltanschaulich überhaupt keine richtige Sicht haben.

Und die Psychotherapie müssen wir uns so erklären: dass das ein Werkzeug ist. Sie ist nicht Weltanschauung! Das ist ein Werkzeug, das ist eine Erkenntnis, das ist ein Blick in die Tiefe der menschlichen Seele, das ist das Erkennen der menschlichen Natur. Das ist die Tiefenpsychologie, die wissenschaftliche Disziplin, das Leben, den Menschen zu erkennen, das Wesen des Menschen zu erkennen, die Reaktionsweise... Und wer hat es in der Hand, mit welchen Augen wird das gesehen? Wenn ein religiöser Mensch diese Psychologie anwendet, dann wendet er seine Grundstimmung an, sein Fundament, sein Denken, sein Fühlen. Die religiösen Menschen nehmen sich das von der tiefenpsychologischen Erkenntnis, was ihnen passt, sie bleiben beim »lieben Gott«, sie bleiben beim Teufel.

Vergessen wir nicht, dass Freud selber noch ganz ulkige Dinge erzählt hat, mit denen man heute nichts anzufangen weiß. Er ist von der Naturwissenschaft ausgegangen, aber sein Denken, sein Fühlen, seine Weltanschauung war die alte, konservative. Wäre Freud etwas besser orientiert gewesen über das gesellschaftliche Problem, wären wir heute in dieser Beziehung weiter.

Und dann Adler -  passte den Menschen nicht, dem Pfarrer nicht, den Bürgerlichen, Konservativen nicht, weil er eine andere Schau gehabt hat. Alfred Adler hat hingewiesen auf das Gemeinschaftsproblem.

Nun, wie stehen wir hier da mit unserem Problem, mit unserer Erfassung des ganzen Menschen, seinem Denken, seinem Fühlen, seiner Weltanschauung? Wenn einer von uns das einem sagt, dann greift er sich an den Kopf: »Psychologie, ja was ist das?« Wenn Sie ihm das sagen, dass das Problem ein menschliches, ein psychisches ist, das verstehen sie nicht. Sie halten das wie der religiöse Mensch, wie der Pfarrer, das ist sakrosankt, das ist etwas, was man nur unter vier Augen ausmachen kann. Das Popularisieren, da sind sie dagegen, sind Gegner vom Liebling, sind dagegen, dass man das populär macht: »man schadet nur, man irritiert nur den Menschen, der Laie, was wird denn der schon verstehen? Der kann doch überhaupt nicht verstehen!«

Also, wir stehen ganz allein da. Ich muss Ihnen das sagen. Ich habe es schon vor zwei Jahren und voriges Jahr sagen wollen, und ich bin zurückgeschreckt davon, um Euch nicht zu irritieren. Ich stehe ganz alleine da und ich könnte fast sagen: in der ganzen Welt. Es ist niemand da, der sich der Sache der Tiefenpsychologie angenommen hat, in diesem Sinne wie wir hier es bearbeiten.

Alle Psychologen, alle Richtungen sind religiös, national und bestehen auf der Grundlage der heutigen Gesellschaftsordnung. Abgesehen von seltenen Fällen, und diese sind sehr schwach. Und das ist nicht nur im Weltanschaulichen der Fall, sondern auch im therapeutischen Prinzip ist es so, dass sie dem Menschen nicht helfen können. Sie lassen ihn im Stich. Unbewusst, weil er [der Psychologe] das alte mystische Weltbild nicht sieht, nicht einbezieht, kann er dem Menschen nicht helfen. Wir können sagen, dass 95 von Hundert Autoren am anderen Ufer stehen, gläubig, mystisch usw.

Also, um die Frage zu verstehen, wie wir die Tiefenpsychologie sehen, müssen wir uns abgrenzen von den anderen, sonst laufen wir Gefahr, dass wir da als Narren betrachtet werden. Ich denke mir, wir sollten uns die »Zürcher Schule« nennen, sonst werden wir verwechselt mit den anderen, und das möchten wir doch nicht. Vielleicht, ich unterbreite Ihnen jetzt den Vorschlag, den wir dann diskutieren können, dass wir uns die Zürcher Schule nennen.

Also das Mittelalter haben wir heute bei den Psychotherapeuten, bei den Nervenärzten, das Mittelalter. Er lebt als religiös-nationaler Mensch, das schleppt er vom Mittelalter mit. Und wenn jemand kommt und sagt uns, wir sollen uns den gesellschaftlichen Problemen zuwenden, der hat nicht recht. Er muss etwas Geduld haben. Zuerst sollte er sich der Geschichte zuwenden und einmal sehen, dass   – wie ich schon erwähnt habe   – alles scheitert ohne richtige Erkenntnis der psychologischen Probleme.

Das psychologische Problem hat erst dann seinen Sinn, wenn Wunder nicht mehr vorhanden ist. Dann fängt erst die klare Erkenntnis an. Wenn der Mensch imstande ist, fähig ist, das Wunder aus seinem Denken auszuschalten. Solange Wunder geschehen, solange der Mensch an Wunder glaubt, an Gott, Religion, die alte Auffassung, die unsere Vorfahren getragen haben, solange wir da anhängen, kommen wir nicht weiter.

Viele der älteren Semester sehen das, wenn sie sich vertiefen in die Autoren, wenn sie die lesen und sie verstehen wollen: wie schwach sie sind, wie unklar ihre Auffassung über den Menschen ist. Dass der Mensch böse ist, das liegt in der Bibel, das weiß jeder, und mit diesen Augen, mit dieser Auffassung tritt der Psychotherapeut dem Patienten entgegen. Und das ist eine Tatsache, dass viele Psychologen ihren Patienten empfehlen zu beten. Das geschieht überall, auch in Zürich leben wir noch im Mittelalter. Er klärt überhaupt nicht ab, ob der Mensch noch beten will, wieweit er kulturell sich von der Bibel entfernt hat, sondem er empfiehlt ihm ganz einfach, als seine Empfehlung, dass er durch das Beten gesund wird.

Wie gesagt, ich will heute nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, wir werden dann Gelegenheit haben, im neuen Semester das Problem genau zu besprechen. Es geht nicht, dass man das so schnell erklären kann. Gewöhnlich ist es so, dass die Menschen glauben   – sind eingebettet in Glaubenssätze   – und die Geschichte nicht kennen. Ich weiß, es fällt mir schwer, überhaupt zu sprechen, weil man das nicht erklären kann. Wir haben ja unsere Erfahrung in unserer Forschungsarbeit, wie schwer das ist, die Erkenntnisse weiterzubringen.

Ich hab' hier nicht Unrecht getan unseren Kollegen »vom anderen Ufer«, wie ich gesagt habe. Wenn z.B. der Mensch in seinem Gefühlsleben, in seinem Denken die Prädestination von Calvin annimmt   – und die lebt ja in uns allen, das ist nicht Calvin allein, das ist eine weltweite Meinung! Amerika z.B. ist beherrscht von diesem Gedanken   – gehört zu diesen Gedanken, dass der liebe Gott hier Gnade und Verdammnis austeilt, und das alles vom lieben Gott kommt, dass der Reiche z.B. vom lieben Gott eingesetzt ist und der Arme auch vom lieben Gott. Stellen Sie sich vor, der Mensch, der daran glaubt, der soll einem anderen Menschen, einem Patienten helfen. Wie gesagt, wir werden uns weiter darüber unterhalten!

*An den regelmässig stattgefundenen Arbeitstagungen der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle wurden wissenschaftliche Forschungsthemen zu allen Bereichen der Natur des Menschen, seiner Kulturgeschichte (Philosophie, Religion, Weltanschauung, Krieg und Frieden) im freien Gespräch mit meist weit über hundert Teilnehmern besprochen.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling