Die Entstehung des Entwicklungsgedankens und seine Bedeutung für die Psychologie

20. November 2015

Vortrag gehalten an der 20. Arbeitstagung der Zürcher Schule für Psychotherapie am 7. November 1982

Gemeinschaftsarbeit einer Arbeitsgruppe von Naturwissenschaftlern

Einleitung

Der Mensch lebt nicht mehr auf einer flachen Scheibe. Er hat die Kugelgestalt der Erde erkannt. Die Erde ist nicht mehr Mittelpunkt des Universums, sondern ist einer unter neun Planeten, die die Sonne umkreisen. Die Sonne ihrerseits ist ein ganz durchschnittlicher Stern unserer Milchstrasse, die insgesamt 150 Milliarden Sterne umfasst. Aber auch sie ist nichts besonderes: Die Astronomen haben Milliarden anderer Galaxien   – grössere und kleinere   – in den Tiefen des Universums gefunden.

Die Biologen haben mehr als eine Million verschiedener Arten von Lebewesen auf unserer Erde beschrieben. Sie haben erkannt, dass alle Organismen aus Zellen bestehen, manche aus nur einer einzigen, andere   – wie der Mensch   – aus Millionen von Zellen. Die Wissenschafter haben solche Zellen von Menschen, Tieren und Pflanzen untersucht und überall ähnlichen Aufbau, ähnliche chemische Zusammensetzung gefunden. Alle Zellen enthalten bestimmte riesige Moleküle, die nur in Lebewesen vorkommen   – nämlich Nukleinsäuren und Proteine. Sämtliche Moleküle aber bestehen aus den gleichen Atomarten, aus denen auch unsere Erde und alle Himmelskörper aufgebaut sind.

Das nächtliche Bild der Sterne galt den Menschen von jeher als Beweis kosmischer Unveränderlichkeit. Im Bereich des Lebens schien der Zyklus von Geburt und Tod aller Lebewesen ein richtungsloser Kreislauf einer stets gleichbleibenden Welt. Vom Tage der Schöpfung an schienen Planeten und Gestirne, Berge und Ozeane, auch Pflanzen, Tiere und Menschen unwandelbare Bestandteile einer immer gleichen Ordnung.

Dieser Eindruck hat sich als falsch erwiesen.

Sterne werden geboren und verlöschen eines Tages. Kontinente zerreissen und gruppieren sich neu. Gebirge falten sich auf und werden durch Flüsse und Witterung abgetragen. Neue Arten von Lebewesen entstehen aus Vorstufen, und viele frühere Formen sind bereits wieder ausgestorben. Auch die Atomarten sind nicht unwandelbar. Sie entstehen im Innern von Sternen stufenweise durch Atomkernverschmelzungen. Viele experimentelle Befunde zeigen, dass alle Bausteine der Materie in einer gewaltigen Explosion, dem Urknall, vor Milliarden von Jahren entstanden sind. Seither organisiert sich die Materie selbst zu komplizierten Formen und Strukturen. Die heutige Welt ist eine Momentaufnahme dieses gewaltigen Prozesses.

Diese Gesamtentwicklung in allen Bereichen der Natur   – einschliesslich des Menschen mit seiner Psyche und seiner Kultur   – wird als EVOLUTION bezeichnet. Die Erkenntnis dieses universellen Prozesses ist die umfassendste Einsicht aller bisherigen Wissenschaft.

Der Entwicklungsgedanke ist eine der grossen geistigen Errungenschaften der Neuzeit. Der gesamte Bereich des Wissens um die Natur und den Menschen wurde von ihm aufs nachhaltigste beeinflusst. Das Wissen um den Menschen, die Psychologie, ist die konsequente Fortsetzung und Anwendung des Entwicklungsgedankens. Das Seelenleben ist ein natürlicher Lebensprozess und somit ein Bestandteil der Evolution. Die kulturelle Entwicklung des Menschen, seine Errungenschaften, werden in diesen Prozess einbezogen. Das Auftreten der Psychologie im 20. Jahrhundert ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Als jüngste der Wissenschaften liefert sie das Wissen um den Menschen und gliedert ihn vollständig in das Naturgeschehen ein.

Indem wir der Geschichte des Entwicklungsgedankens nachgehen, werden wir die heutige Situation der Psychologie besser verstehen lernen. Wenn wir wissen, dass jeder neuzeitliche Gedanke nur langsam bei den Menschen Fuss fassen konnte, wird es uns nicht weiter erstaunen, dass heute die Psychologie sich nur schwer durchsetzen kann.

Es geht uns um die Beantwortung folgender Fragen:

  1. Welche Stadien durchlief die Idee der Entwicklung in der Natur im Laufe der Menschheitsgeschichte?
  2. Mit welchen Schwierigkeiten waren die Forscher, die den Entwicklungsgedanken vertraten, konfrontiert?
  3. Welche Folgerungen für das menschliche Zusammenleben wurden von verschiedenen Forschern aus der Entwicklungslehre gezogen?

1. Wie hat sich die Vorstellung einer Entwicklung in der Natur im Laufe der Geschichte herausgebildet, und welche Ideen standen dem entgegen?

Ansätze des Entwicklungsgedankens lassen sich bis zu den ionischen Naturhilosophen im 6. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgen. So war z.B. für Anaximander das Leben aus dem Wasser entstanden, und er hielt die Fische für die Vorfahren der Menschen. Xenophanes fand Fossilien und erklärte sie richtig als Versteinerungen von ausgestorbenen Lebewesen.

Durch das Aufkommen der christlichen Dogmatik, die sich auf die biblische Schöpfungslegende festlegte und keine anderen Auffassungen duldete, wurden diese Vorstellungen für 1500 Jahre in den Hintergrund gedrängt.

Im Mittelalter diente die Natur als Illustration religiöser Lehren. Es ging nicht um die Gewinnung von Erkenntnis. Diese hatte der Mensch bereits, da sie ihm in der Heiligen Schrift geoffenbart worden war.

Als Vorbild für die mittelalterliche Naturauffassung diente vor allem ein Werk alexandrinischen Ursprungs aus dem 2. Jh., das unter dem Namen Physiologus bekannt wurde. Die Person des Autors ist unbekannt, denn "Physiologos" bedeutet einfach der "Naturkundige". Der "Naturkundige" lehrt z.B. von der Schlange:

"Dies ist eine Eigenart der Schlange : Wenn sie altert, werden ihre Augen trübe, und wenn sie nun wieder jung werden will, so enthält sie sich und fastet vierzig Tage und Nächte (so wie Jesus vierzig Tage und Nächte in der Wüste gefastet hat) bis ihre Haut schlaff wird. Dann sucht sie einen Felsen und eine enge Spalte, und da zwängt sie sich hindurch und presst ihren Leib und streift die alte Haut ab und wird wieder jung.

So muss auch der Mensch, wenn er diese höchst kluge Schlange annehmen und die alte Haut dieser Welt (d.h. die Sünde) ablegen will, durch die enge und mühselige Pforte gehen, zuvor aber den Leib durch Fasten kasteien. Denn eng ist der Weg und mühselig, der zum ewigen Leben führt."

In der Weltstadt Alexandria haben sich im 2. Jahrhundert n. Chr. echte Naturerkenntnis, Spekulation, Religion und Aberglaube in einem Schmelztiegel getroffen. Die Verbindung von Naturbetrachtung und christlichem Gedankengut ist charakteristisch für den Physiologus. Noch heute wird diese Mischung von Realität und Phantasie in Form von Märchen und Mythen den Menschen vermittelt. Darum fällt es uns so schwer, konsequent zwischen Realität und Spuk zu unterscheiden.

Erst in der Renaissance, nach 1000 Jahren Mittelalter, begannen die Menschen an den Vorstellungen, wie sie im Physiologus geschildert werden, zu zweifeln. Im 16. Jahrhundert nahm der Entwicklungsgedanke bei Giordano Bruno wieder bestimmtere Gestalt an. Für ihn war der Kosmos ein unbegrenzter Organismus. Bruno schreibt darüber: "Die Materie ist nicht formlos, sie enthält vielmehr alle Formen im Keime, und indem sie entfaltet, was sie eingehüllt in sich trägt, ist sie in Wahrheit alle Natur und die Mutter alles Lebendigen."

Der Kirche erschienen Brunos Gedanken als zu gefährlich. In 20 Punkten wurde er der Ketzerei für schuldig befunden. Als er sich weigerte zu widerrufen, wurde er am 17. Februar 1600 auf dem Campo dei fiori in Rom öffentlich als Ketzer verbrannt. Sämtliche Schriften Brunos kamen 1603 auf den Index der verbotenen Bücher und blieben dort bis zu dessen Aufhebung im Jahre 1965.

Nach Brunos Tod kam der Entwicklungsgedanke im Werk von René Descartes wiederum zum Zuge. Seine mechanischen Vorstellungen über die Entstehung des Sonnensystems bestärkten die Vorstellung einer Entwicklung in der Natur. Aber aus Angst vor Verfolgung versteckte und unterdrückte Descartes seine Gedanken.

Als Kind hatte er Brunos Hinrichtung erlebt, inmitten seiner Laufbahn konnte er Galileis Kampf mit der Inquisition in allen Abschnitten beobachten. Und in der Tat: Obwohl er für die Kirche neue Beweise für das Dasein Gottes beibrachte, wurden seine Werke nach seinem Tode auf den Index gesetzt, "bis sie korrigiert werden", wie es in der Verfügung der Indexkongregation hiess.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts gab der Philosoph Leibnitz der Entwicklungslehre neuen Antrieb. Seine Monadentheorie, die unverkennbar Berührungspunkte mit der modernen Biologie hat, führte ihn zu der Idee einer allmählichen Gestaltung der Welt. Seine Bestrafung erfolgte nach wenigen Jahren dadurch, dass die Jesuiten 1712 seinen Versuch hintertrieben, in Wien eine Akademie der Wissenschaften zu gründen.

Von den direkten Vorläufern von Charles Darwin verdient neben Lamarck der französische Naturforscher Leclerc de Buffon besondere Beachtung, da seine Erkenntnisse erstmals das Resultat praktischer Versuche sind und nicht das Ergebnis philosophischer Betrachtungen. Aber als er 1749 begann, seine Naturgeschichte zu veröffentlichen, wurde er vor die theologische Fakultät der Pariser Sorbonne geschleppt und gezwungen, öffentlich zu widerrufen: "Ich entsage allem und jeglichem, was ich in meinem Buche über die Bildung der Erde gesagt habe und ganz im allgemeinen allem, was der Darstellung von Moses widersprechen könnte."

Ein weiterer wichtiger Vorläufer von Darwin, Etienne Geoffroy St. Hilaire scheiterte am Autoritätsglauben seiner Zeitgenossen. Sein Gegenspieler, Georges Cuvier, Professor für Naturgeschichte am Collège de France, galt als der grösste Naturforscher jener Zeit. Er war kaiserlicher Rat unter Napoleon, Präsident des staatlichen Unterrichtsrates und Kanzler an der Universität. Als strenggläubiger Hugenott war es ihm nicht möglich, sich dem Evolutionsgedanken anzuschliessen. Cuvier entwickelte für die Erklärung der von ihm selbst ausgegrabenen Fossilien eine eigene Theorie:

Sintflutartige Katastrophen hätten immer wieder alle Lebewesen auf der Erde ausgerottet, um Raum für die Neuschöpfungen zu schaffen. 1830 fand in der Pariser Akademie jene denkwürdige Auseinandersetzung zwischen Cuvier und St. Hilaire statt, die der an diesen Fragen ebenfalls interessierte Goethe mit grosser Spannung verfolgte. Cuvier vertrat die Lehre von der bleibenden Gestalt der Arten, während St. Hilaire ihre Veränderlichkeit durch Anpassung an die Umwelt zu beweisen versuchte.

Cuviers Autorität, seine hohe Stellung an der Universität und im Staat trugen den Sieg davon. Die gesamte Fachwissenschaft stand hinter ihm und hatte für seinen Gegner nur Hohn und Spott übrig. Es hatte den Anschein, dass die Entwicklungslehre ein für allemal erledigt wäre. In den folgenden drei Jahrzehnten wurde an den Universitäten, selbst bei den Biologen, der Entwicklungsgedanke mit keinem Wort mehr erwähnt. Die offizielle Biologie hatte sich von den grundlegenden Fragen völlig abgewandt.

So ist es auch verständlich, dass 1859 Darwins Werk "Ueber die Entstehung der Arten", selbst in der Fachwelt, wie eine Bombe einschlug. Sämtliche 1250 Exemplare der ersten Ausgabe waren bereits am Abend des ersten Tages verkauft. Darwin war kein Fachgelehrter im üblichen Sinn, sondern ein Aussenseiter. Ohne Universitätsdiplom in Naturwissenschaften betrieb er seine Forschungen sozusagen aus Liebhaberei.

Wir stehen hier vor einem Phänomen, das in der Wissenschaftsgeschichte nicht etwa die Ausnahme ist, sondern als Regel gelten kann. Grosse Entdeckungen, umwälzende geistige Errungenschaften entspringen nie verknöcherten Institutionen, sondern sind stets das Resultat freier geistiger Auseinandersetzung.

Gleichzeitig und unabhängig von Darwin gelangte der Autodidakt Alfred Russel Wallace, der in Borneo seinen Forschungen nachging, zu denselben Ergebnissen und Auffassungen über den Artenwandel. Das Werk von Darwin und Wallace verhalf der Entwicklungslehre zum endgültigen Durchbruch. Durch ihre bahnbrechenden Arbeiten haben sie ein tragfähiges naturwissenshaftliches Fundament für die Entwicklungslehre geliefert.

2. Mit welchen Schwierigkeiten waren die Forscher konfrontiert, die den Entwicklungsgedanken vertraten?

Wie alle Forscher, die das Welt- und Menschenbild der christlich-abendländischen Kultur in Frage stellten, gerieten auch die Vertreter des Entwicklungsgedankens in Konflikt mit den herrschenden Autoritäten. Es ist geradezu ein Kennzeichen unserer Kultur, dass der Fortschritt zu jeder Zeit auf Widerstand stiess.

Die Entdeckungen der Forscher wurden nie mit Erleichterung oder gar Begeisterung aufgenommen. Man begegnete ihnen mit Ablehnung, Verfolgung und Verunglimpfung. Dass der Fortschritt stets bekämpft wurde, ist keine Naturgesetzlichkeit, sondern erklärt sich aus der autoritären Tendenz unserer Kultur.

Durch die gewalttätige Erziehung hat sich diese Tendenz erhalten und prägt auch heute noch unser Welt- und Menschenbild. Wo Gehorsam oberstes Erziehungsideal ist, kann die andere Meinung, die den Fortschritt bringen könnte, nicht geduldet werden. Wo die Kinder aus Angst den Eltern nicht zu widersprechen wagen, fehlt den Forschern der Mut, zu ihren Ergebnissen zu stehen. Wo der Wille des Kindes gebrochen wird, wird auch der fortschrittliche Gedanke abgewürgt.

Die Mittel, mit welchen der Fortschritt bekämpft wird, haben sich im Laufe der Zeit geändert. Geblieben ist die Aversion gegen die andere Meinung. Betrachten wir die Schwierigkeiten, mit denen die Forscher, die den Entwicklungsgedanken vertraten, konfrontiert wurden.

Im Mittelalter bildete die offizielle Lehrmeinung der Kirche ein starres System von Dogmen. Andersdenkende wurden mit brutaler Gewalt verfolgt. Hexenwahn und Teufelsaberglauben trieben ihr Unwesen, dem viele Tausende unschuldiger Menschen zum Opfer fielen.

So war es möglich, dass Forscher wie Giordano Bruno als Ketzer verbrannt, oder, wie Galileo Galilei, von der Inquisition gezwungen wurden, ihrer wissenschaftlichen Ueberzeugung abzuschwören.

In der frühen Neuzeit breitet sich der wissenschaftliche Gedanke langsam aus und drängt durch seine Erfolge das mystische Denken zurück. Die bisher unumschränkte Macht der Kirche begann zu schwinden, auch innerkirchliche Veränderungen wie die Reformation trugen dazu bei. Deshalb mussten die Kirche und ihre Sachwalter in der Wissenschaft zu anderen Formen des Kampfes übergehen. Die Forscher und ihre wissenschaftlichen Ergebnisse wurden beschimpft, verhöhnt, herabgesetzt und verächtlich gemacht. So erging es Darwin und den Vertretern der Evolutionslehre.

Der Kampf zwischen den Anhängern und den Gegnern der Abstammungslehre unter den Naturforschern dauerte ungefähr zwei Jahrzehnte. Für die Ausbreitung der Darwinschen Lehre wirkten im deutschsprachigen Raum vor allem Ernst Haeckel, Karl Nägeli und Arnold Dodel.

Die Schwierigkeiten, gar Anfeindungen, mit denen die Forscher konfrontiert wurden, illustriert wohl am besten die Wirkung von Haeckels Referat auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte im Jahre 1863. Einige namhafte Autoritäten sprachen ihr Bedauern aus, dass man überhaupt solche "unwissenschaftliche Gegenstände" wie die Evolutionslehre auf einem Naturforscherkongress zur Sprache bringe. Andere nannten die gesamte Darwinsche Theorie einen leeren Schwindel, ein bodenloses Phantasiegebäude. Nicht wenige der anwesenden Naturforscher beantragten, die Evolutionslehre überhaupt von der ernsthaften Diskussion auszuschliessen. Haeckel wurde von der Professorenwelt gesellschaftlich boykottiert, und die Kirche klagte ihn gar als Jugendverführer an und forderte seine Entlassung von der Universität.

Dennoch nahm die Zahl der Vertreter der Abstammungslehre unter den Forschern stetig zu. Selbst die sonst eher konservativen wissenschaftlichen Akademien in Europa nahmen die Abstammungslehre auf. Noch zu Lebzeiten wird Darwin Ehrenmitglied verschiedener Forschervereinigungen.

Diese Wandlung der Dinge vollzog sich jedoch nur in der Forscherwelt. Völlig anders reagierten die politischen Institutionen und die Kirche. Das preussische Abgeordnetenhaus, zum Beispiel, debattierte im Jahre 1883 zwei Tage lang über die Folgen der Verbreitung der Abstammungslehre.

Die göttliche Schöpfung von Natur und Mensch darf nicht angezweifelt werden

Der Anlass dieser Debatte war, dass der Rektor der Berliner Universität, der berühmte Emil Dubois-Reymond, sich für die Abstammungslehre Darwins eingesetzt hatte. Intern möge er das tun, fand ein Abgeordneter, aber doch nicht öffentlich, da doch die Menschen alles glauben, was ein deutscher Professor lehrt.

Die Vertreter der Kirche reagierten noch heftiger. Die Abstammungslehre wurde als ein schwerer Angriff gegen die religiöse Weltanschauung empfunden, als tiefgehende Erschütterung des christlichen Selbstverständnisses erlebt. Im Jahre 1909 erfolgte eine päpstliche Stellungnahme zur Evolutionslehre, in der verboten wurde, den buchstäblichen Sinn derjenigen Bibelstellen anzuzweifeln, welche die Fundamente der christlichen Religion berühren, so vor allem die göttliche Schöpfung von Natur und Mensch. Noch die Enzyklika "Humani generis" aus dem Jahre 1950 warnte vor der Evolutionslehre:

"Einige lassen unklug und urteilslos die sogenannte Entwicklungslehre, die auf dem eigenen Gebiet der Naturwissenschaften noch nicht sicher bewiesen ist, für den Ursprung aller Dinge zu und verlangen sie; vermessentlich huldigen sie der Auffassung, dass das Weltall einer ständigen Entwicklung unterworfen sei."

Nach 1950 wird eine biologische Evolution anerkannt, mit der Einschränkung, dass sie als Hypothese zu verstehen sei. Die Übertragung und Anwendung des Evolutionsgedankens auf die geistige und seelische Entwicklung ist aber nach wie vor nicht erlaubt. Die Anerkennung der Evolutionslehre, auf dem geistig-seelischen Gebiet, würde das traditionelle Menschenbild unserer Kultur in Frage stellen.

Psychologisch denken lernen

Die heutige Form der Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie bezweckt ihre Neutralisierung bezüglich ihrer weltanschaulichen Konsequenzen. Es wird der Versuch unternommen, Wissenschaft und Religion zu "versöhnen". Als Folge davon vermischen sich im Welt- und Menschenbild unserer Zeit die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit mittelalterlichen Mythen und Märchen.

Für uns geht es darum, den Entwicklungsgedanken auf unser Leben anzuwenden. Dadurch lernen wir psychologisch zu denken.

3. Welche Konsequenzen haben sich aus der Darwinschen Theorie für das menschliche Zusammenleben ergeben?

Es ist bekannt, dass Darwins Werk zu vielen Missverständnissen und Missinterpretationen Anlass gegeben hat.

Schwerwiegende Konsequenzen haben sich aus den Missinterpretationen der Begriffe "natürliche Auslese" und "Kampf ums Dasein" ergeben. Durch unzulässige Vereinfachung und Verstümmelung von Darwins Theorie konnte es geschehen, dass Rassenvorurteile erhärtet, Rassismus und Aggression pseudowissenschaftlich untermauert und entschuldigt werden konnte. Vor allem auch die Irrlehre des sogenannten Sozialdarwinismus beruht auf einer solchen Missinterpretation.

Was hat aber Darwin mit seiner Theorie der natürlichen Auslese wirklich gemeint?

Darwins Aussage ist auf vier grundlegenden Beobachtungen gegründet:

  1. Alle Arten sind fähig, mehr Nachkommen zu erzeugen als für den Fortbestand der Art nötig wären.
  2. Die Umwelt kann die Überlebenschancen des Lebewesens beeinflussen.
  3. Aufgrund individueller Unterschiede können einige Lebewesen besser überleben als andere.
  4. Individuelle körperliche Eigenschaften werden auf die nächste Generation vererbt.

Ein einfaches Beispiel der Auswirkung eines natürlichen Ausleseprozesses ist die Veränderung des Birkenspanners, eines in England sehr verbreiteten Nachtfalters. Er dient als Nahrung für zahlreiche Vogelarten, die ihn von den Baumstämmen lesen, wo er sich tagsüber ausruht. Während des vorigen Jahrhunderts änderte sich die Umwelt für diesen Falter dramatisch. Vor der Industrialisierung sahen die Baumstämme graugesprenkelt aus, weil sie mit Flechten überwachsen waren. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts waren in vielen Industriebezirken die Baumrinden von Russ und Rauch geschwärzt und die Flechten abgestorben. Während man um 1850 unter vielen hell gefärbten Birkenspannern nur selten einen dunklen finden konnte, weil diese auf den damals noch grauen Baumrinden auffielen und zur leichten Beute der Vögel wurden, ist es heute umgekehrt.

Heute sind die Falterpopulationen vorwiegend dunkel gefärbt, während die hellen auf den geschwärzten Baumrinden die geringeren Chancen zum Ueberleben und zur Fortpflanzung haben.

Allgemein kommt es im Laufe der Zeit durch eine derartige Auslese zu einer Anpassung der körperlichen Strukturen und Funktionen an die Umweltbedingungen.

Die Irrlehre des Sozialdarwinismus als Rechtfertigung von Ausbeutung und Krieg

Beeinflusst durch die damals herrschende Meinung über das Bevölkerungsproblem, wonach "der Tisch des Lebens nicht für jeden gedeckt" sei, war Darwin ursprünglich der Ansicht, dass der Ausleseprozess letztlich das Resultat eines steten Kampfes zwischen den verschiedenen Arten und auch innerhalb derselben sei. Darwin selbst hat später diese Meinung stark revidiert und ist besonders in seinem Buch über die Entstehung des Menschen zu wesentlich anderen Ergebnissen gelangt.

Doch die Vorstellung vom Kampf ums Dasein hat auf viele Forscher, besonders eben auf die Begründer des Sozialdarwinismus, einen mächtigen Einfluss ausgeübt. Man gewöhnte sich daran, die Natur als ein ungeheures Schlachtfeld aufzufassen, auf dem die Schwachen vom Starken erbarmungslos niedergetreten werden. Man glaubte   – und diese Meinung ist auch heute durchaus nicht ausgestorben   – innerhalb jeder Gattung herrsche eine Art dauernden Bürgerkriegs, welcher durch naturgesetzliche Notwendigkeit bedingt sei. Auch die menschliche Gesellschaft wurde   – und wird   – von vielen Gelehrten irrtümlicherweise in diesem Licht gesehen. Jede menschliche Ausbeutung und Scheusslichkeit konnte so gerechtfertigt werden.

Darwins Werk fiel in die Zeit, als die Grossmächte ihre Kolonialreiche ausbauten. Seine Erkenntnisse wurden dazu missbraucht, Sklaverei und Ausrottung sogenannt "minderwertiger Menschengruppen" zu rechtfertigen. Rassenwahn, Nationalismus, ja sogar Völkermord wurden nun fälschlicherweise als Folge unerbittlicher Naturgesetze erklärt.

Noch heute ist das menschliche Zusammenleben in vielen Bereichen von der Wahnidee geprägt, der Mächtigere sei naturgemäss berechtigt, den Schwächeren zu beherrschen und zu unterdrücken.

Doch zu Darwins Zeit gab es nur wenige Vertreter seiner Lehre, die an der Richtigkeit der Auffassung eines steten Kampfes mit Klauen und Zähnen zweifelten. Zu diesen wenigen gehörte der russische Zoologe Kessler. Er vertrat bereits 1880 auf einem naturwissenschaftlichen Kongress in St. Petersburg die Meinung, dass neben dem brutalen Kampf in der Natur noch ein anderes Gesetz vorherrsche. Er erkannte in der gegenseitigen Unterstützung innerhalb der in der Gesellschaft lebenden Arten eine Kraft, die wesentlich zur Erhaltung der Art beiträgt.

Die “gegenseitige Hilfe” als wesentlicher Faktor von Überleben und Fortschritt

Dieser Gedanke fand später in dem Werk Peter Kropotkins über die "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" eine weitgehende Ausgestaltung. Anhand eines reichen Tatsachenmaterials zeigt Kropotkin, dass die Vorstellung von der Natur als einem unbegrenzten Schlachtfeld nur ein grausames Zerrbild des Lebens ist, das den wirklichen Tatsachen Gewalt antut.

Er betont die Bedeutung des gesellschaftlichen Zusammenlebens für die Erhaltung der Art. Dieser zweite Mechanismus der evolutionären Anpassung ist sogar von ungleich grösserer Bedeutung als der sogenannte Kampf ums Dasein. Im gesamten Tierreich ist zu beobachten, dass die gegenseitige Hilfe eines der besten Mittel zur Abwehr aller die Art schädigenden Einflüsse ist.

Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen

Im Laufe der Evolution ist die gegenseitige Hilfe zum entscheidenden Entwicklungsfaktor geworden. Von allen heutigen Lebewesen ist dieses Prinzip beim Menschen am stärksten ausgeprägt. Die Kulturgeschichte berichtet zwar von einer langen Reihe blutiger Kämpfe um Herrschaft und Macht; doch auch hier war es stets der gegenseitige Beistand   – und nicht der gegenseitige Kampf   – der letztlich den kulturellen Fortschritt gebracht hat.

Die ganze Art und Weise, wie die Darwin'sche Lehre missbraucht und missverstanden wurde, gibt ein eindrückliches Beispiel dafür ab, welch katastrophale Folgen mangelndes Wissen um die Grundlagen menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns haben kann. Gegenseitige Hilfe ist ein Element der Evolution. Sie bildet die natürliche Grundlage der menschlichen Moralbegriffe. Den Entwicklungsgedanken auf unser Leben anzuwenden bedeutet somit, die Konsequenzen aus dieserErkenntnis zu ziehen. Es heisst, verstehen zu lernen, was es bedeutet, dass der Mensch von Natur ein Gemeinschaftswesen ist, und dass ihm ohne die Gesellschaft seiner Artgenossen die gesunde Entwicklung und die volle Entfaltung seiner Lebensmöglichkeiten versagt ist.

Diese Erkenntnis dem Menschen in der heutigen durch Krieg und Unterdrückung gekennzeichneten Welt zu vermitteln, ihm dazu zu verhelfen, sie in sein Fühlen und Denken zu integrieren, das ist die Aufgabe der psychologischen Aufklärung.

Zusammenfassung und Schluss

Der Mensch ist geworden in einer Milliarden Jahre dauernden Entwicklung. Dieser Prozess von einfachen Bausteinen der Materie zum Menschen mit seiner Psyche und Kultur wird als EVOLUTION bezeichnet. Diese Erkenntnis ist die umfassendste aller bisherigen Wissenschaft.

Das Seelenleben des Menschen sowie seine Fähigkeit und sein Bedürfnis zur Kooperation ist das Produkt dieses Entwicklungsprozesses. Die Evolution ist daher das Fundament der Psychologie. Da Naturerkenntnis aber ein seelischer Prozess ist, d.h. die Psyche zur Voraussetzung hat, wird die Psychologie zur Grundlage aller andern Wissenschaften.

Als jüngste der Wissenschaften ist die Psychologie gleichzeitig Grundlage und Vollendung der Naturerkenntnis.

Die Erkenntnis der Einheit der Natur und ihre Entwicklung ist ein Resultat der Neuzeit. 400 Jahre unermüdliche Auseinandersetzung mit dem statischen Weltbild des Mittelalters haben die Menschheit auf den heutigen Stand gebracht.

Unzählige Menschen haben beigetragen, die alten Vorstellungen in Zweifel zu ziehen und durch wirkliches Wissen zu ersetzen. Das Ausmass der Schwierigkeiten und der Widerstände mit denen sie sich auseinandersetzen mussten, können wir heute erahnen.

Heute im 20. Jahrhundert ist der Mensch dabei sich selbst zu erkennen. Das Resultat dieser unserer Bemühungen wird zur Psychologie führen, zur Wissenschaft vom Menschen.

LITERATUR

  • M. Weilmann “Der Physiologus”. Leipzig (1930)
  • A. Dodel “Moses oder Darwin”. Zürich (1890)
  • Steven Weinberg "Die ersten drei Minuten". Der Ursprung des Universums. dtv Taschenbuch
  • Charles Darwin "Die Entstehung der Arten". Reclam Stuttgart (1963)
  • Ruth Moore “Die Evolution”.          TIME-LIFE Bildsachbuch. rororo Taschenbuch
  • A.D. White “Die Geschichte der Fehde zwischen Wissenschaft und Theologie in der Christenheit”. Leipzig (1911)
  • B. Rensch “Das universale Weltbild”. Fischer Taschenbuch (1977)
  • J. Hemleben “Darwin”. rororo Bildmonographie (1968)
  • P. Kropotkin “Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt”.       Ullstein Taschenbuch (1976)
  • R. Rocker “Nationalismus und Kultur”. Bd. 2 Vita Nova Verlag Zürich (1976)
  • Unesco Kurier Nr. 5, 1982. "Die Theorie von der Evolution”.
  • Rundschreiben “Humani generis”. Libreria Editrice Vaticana (1950)
  • Ernst Haeckel "Die Welträtsel." Kröner Verlag Leipzig (1908)

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling