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20.04.2025 Von Harald Martenstein - übernommen von weltwoche.ch
11. May 2025

Martenstein: Der Mensch als Gruppenwesen


Ich glaube, dass ein Siegfried Unseld auch unter Hitler Karriere gemacht hätte. Oder unter dem Kaiser. Oder in den USA. Oder bei den Grünen.
Sie waren alle sehr jung damals: Verleger Unseld.

Das Haus Suhrkamp galt in Deutschland jahrzehntelang als besonders edel und als «Vorzeigeverlag in Sachen Aufarbeitung der NS-Zeit». So formulierte es der Deutschlandfunk. Wer zur deutschsprachigen Autorenelite gehören wollte, tat gut daran, bei Suhrkamp zu publizieren. Falls sie einen dort nahmen.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, liebe Freunde, Martenstein ist auch Pädagoge. Er weiss etwas über die psychische Befindlichkeit von uns Menschen und auch von sich selbst. So legt er in diesem Essay etwas Grosses und Bewundernswürdiges auf den Tisch: Er bezieht sich ein, es hätte auch ihm passieren können, dass er mitgemacht hätte, wenn die Umstände entsprechend gewesen wären, das spricht für den Autor. Darum haben wir den Text für uns alle zum Nachdenken übernommen. Es ist nicht so weit her mit unserer Eigenständigkeit. Wenn 60% der Deutschen sagen, sie wollen keine Taurus Raketen in die Ukraine liefern, so ist das nett, aber was ist mit den 40%? Und wo sind die 100% Deutschen, die sagen, sind wir nun alle total verrückt geworden? Kriegstüchtig sollen wir werden? Geht’s noch? Wer ist auf diese schändliche Idee gekommen? Das ist doch ein Unwort! Friedenstüchtig, ja gerne, aber kriegstüchtig?? Nein und nochmals nein! Viktor Orban sagt: «Die EU ist von einer Kriegspsychose befallen». Recht hat er!  Ich glaube nicht die EU, aber die Elite der EU, die Führungsschicht, allen voran die Deutschlands, die gehört in die psychiatrische Klinik. Heute sind die Umstände wieder so, dass ‘man’ geneigt ist, mitzumachen, weil es gefährlich ist zu sagen, dass Putin gar keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geführt hat gegen die Ukraine, sondern umgekehrt, die Ukraine vom Westen missbraucht wird, um Russland zu schaden und dass der Krieg 2014 begonnen hat, also eine Vorgeschichte hat. Ich bin 1930 geboren und erinnere mich an die Plakate «PST Feind hört mit», ich war damals 9. Man durfte keine Feindsender hören. Heute ist es anders, wir haben die vielen unabhängigen, ehrlichen Plattformen, die dagegen halten und für Klarheit und selbständiges Denken sorgen. Mitmachen muss nicht mehr sein, unbedingt. Herzlich Margot und Willy Wahl

 

Der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld war eine Lichtgestalt für das linksliberale Deutschland. Nun ist herausgekommen, dass Unseld 1942 in die NSDAP eingetreten ist, und zwar ganz und gar freiwillig. Unseld redete zeitlebens gut und viel, aber darüber halt nicht. In den letzten Jahren ist ein Titan des bundesdeutschen Geisteswesens der Nachkriegszeit nach dem anderen als ehemaliger Nazimitläufer enttarnt worden. Sie waren alle sehr jung damals. Als ihr Geheimnis herauskam, waren sie alt, und die Karriere war gemacht. Günter Grass war SS-Soldat, Walter Jens war in der NSDAP, Martin Walser ebenfalls. Auch der Komponist Hans Werner Henze war in der NSDAP.

Unverwüstliche deutsche Legenden

Wer einen deutschen Nachkriegsintellektuellen der A-Klasse sucht, der vor 1945 partout nicht in die NSDAP hatte eintreten wollen, kann sich an Ernst Jünger halten. Jünger war älter als Unseld und rechts, aber den Rassismus der Nazis lehnte er ab. Ausgerechnet gegen Jünger demonstrierte dann später die Antifa.

Zu den unverwüstlichen deutschen Legenden gehört die Behauptung, in der bundesdeutschen Linken und in der DDR habe es nach 1945 keine Ex-Nazis in leitender Position gegeben. Man war ja antifaschistisch. Im ersten Kabinett des Kanzlers Willy Brandt sassen sechs frühere NSDAP-Mitglieder, dazu gehörten sein Vizekanzler und Aussenminister Walter Scheel (FDP) und der SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller, der ausser in der Partei auch in der SA gewesen war. Der SPD-Politiker und Ex-Nazi Horst Ehmke war mehrfach Minister, auch die sehr beliebten SPD-Oberbürgermeister Rudolf Arndt (Frankfurt) und Jockel Fuchs (Mainz) waren mal Nazis, Letzterer seit 1936. Ein Vater des Grundgesetzes, der feinsinnige Carlo Schmid, war in Frankreich berüchtigt, weil sein Name dort unter der Bekanntmachung von Geiselerschiessungen gestanden hatte. Dies machte der Schriftsteller Manfred Flügge in einem Radiointerview öffentlich.

Wer einen Nachkriegsintellektuellen sucht, der nicht in die NSDAP wollte, kann sich an Ernst Jünger halten.

In der DDR wimmelte es in der SED-Hierarchie von Überläufern. Das hatte nur Folgen, wenn es im Westen publik wurde. Ein besonders krasser Fall war Ernst Grossmann, Mitglied im ZK der SED, der sich in einem der SS-Totenkopfverbände und als Wachmann im KZ Sachsenhausen auf eine Führungsposition in der DDR mental vorbereitet hatte. Er verlor seinen Posten im ZK, aber blieb Mitglied der SED.

Aus all dem folgt aber gerade nicht, dass Deutschland nach 1945 an leitenden Stellen von Nazis dirigiert worden wäre. Diese Leute waren ja keine Nazis mehr. Niemand von ihnen wurde in dieser Hinsicht jemals auffällig, natürlich auch Unseld nicht. Hatten sie sich verändert? Oder hatten nur die Verhältnisse sich geändert? Es wird wohl ein Mischungsverhältnis aus beidem gewesen sein. In Unselds Milieu musste man, 1970 zum Beispiel, ein Linker sein, um zu reüssieren.

Ich glaube, dass fast alle diese jungen Männer, auch Unseld, nach einem deutschen Sieg im Weltkrieg auch unter Hitler ihre Karrieren gemacht hätten. Oder auch unter dem Kaiser. Oder in den USA oder bei den Grünen, warum nicht? Und das mache ich ihnen nicht etwa zum Vorwurf. Die Verhältnisse, in denen man aufwächst, die Medien, Familie, Freunde und Kollegen, das öffentliche Klima, die Konventionen, die Regeln, an die man sich zu halten gelernt hat, die Aufstiegsmöglichkeiten, all das beeinflusst Menschen nun einmal.

Mao und Marxismus

Man nennt es oft Opportunismus, aber man könnte es auch weniger abwertend ausdrücken: Menschen sind Gruppenwesen. Es gibt eine Schwelle, über die man hinüber muss, um auszuscheren und die eigene Zukunft zu gefährden. Man braucht Mut und Kraft, manchmal sogar Todesverachtung. Deshalb sind die deutschen Offiziere, die sich 1944 nicht nur gegen Hitler stellten, sondern auch gegen die meisten ihrer Kameraden, so bewundernswert.

Ich denke an mich selber. Als ich sehr jung war, siebziger Jahre, trugen wir alle Parkas und die gleichen Schuhe und glaubten alle, der Marxismus sei das Richtige und Mao ein guter Typ. Man dachte nicht gross darüber nach. Als ich Mitte dreissig war und alle um mich herum grün wählten, habe ich das auch gemacht. Im Lauf der Zeit bin ich konservativer geworden, wie fast alle um mich herum. Ich bewege mich nicht in einem linken Milieu, eher in einem ziemlich gemischten. Wenn ich seit dreissig Jahren in der Spiegel-Kantine zu Mittag essen würde, wäre ich vielleicht anders drauf.

Man muss dankbar dafür sein, wenn einem die eigene Epoche oder ein Land wie die Schweiz Versuchungen erspart hat, denen man womöglich erlegen wäre.

Harald MArtenstein th 1265081730
Harald Martenstein zählt zu den bekanntesten Kolumnisten Deutschlands. Zuletzt erschien von ihm: Es wird Nacht, Señorita. C. Bertelsmann, Fr. 33.90