Albert Camus

Unter den Repräsentanten des französischen Existentialismus atheistischer Prägung ragt neben Jean-Paul Sartre der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus hervor. Das Problem der menschlichen Existenz, das Grundmotiv des existentialistischen Philosophierens, wird von ihm mit hoher Originalität und eindrücklichem Ernst abgehandelt.
Dichtung und Philosophie durchdringen hierbei einander wechselseitig, indem Camus sich für die Darstellung seiner Lehre der literarischen Formen, des Dramas, des Romans und des philosophischen Essays bedient. Alle diese Gestaltungen sind durch eine vollendete Sprachkunst und eine leidenschaftliche Diktion ausgezeichnet. Camus spricht die Sprache der Leidenschaft, und seine Leidenschaft ist die der Revolte gegen das Unrecht. Dieselbe Radikalität des Denkens, die für Sartre charakteristisch ist, gilt auch für den Verfasser von «Die Pest», «Der Fremde», «Der Mythos von Sisyphos», «Die Gerechten» usw. Diese Werke Camus' sind im Laufe weniger Jahre erschienen, und sie bezeugen die außerordentliche geistige Produktivität, die den noch jungen Autor zu einem der bedeutendsten Philosophen-Schriftsteller der Gegenwart macht.
Der Erfolg Camus' ist aber zweifellos nicht nur auf literarische Qualitäten zurückzuführen. Selbst die Gegner — gleichviel ob religiöser oder politischer Observanz — müssen anerkennen, daß nur wenige zeitgenössische Autoren das Ethos der Gerechtigkeit derart entschieden verkünden wie Camus. Es handelt sich hier nicht um die feige Gerechtigkeit der Abstraktion, die sich im Bereich ideal angesetzter Normen bewegt — die Gerechtigkeit Camus' wagt es, sich mit der ungerechten Welt in den notwendigen Kampf einzulassen. In diesem Sinne bedeuten Camus' Bücher eine Schulung im Geiste der Revolte, jener Geisteshaltung, die die Gerechtigkeit auf dieser Erde, und nicht erst im Himmel, verwirklichen will. Und bei aller Erkenntnis der Absurdität des Weltenlaufes und der Dämonie der Menschheitsgeschichte ist es eine große Liebe zur Welt und zum Menschen, die die düsteren Schilderungen Camus' überstrahlt. Die tapfere Diesseitsbejahung, die in diesem Werk ein und alles bedeutet, läßt sich etwa zusammenfassen durch den Satz Pindars, der der Abhandlung über Sisyphos vorangestellt ist:
«Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus!»
Die Absurdität der Welt
Die entscheidendste Frage, die sich nach Camus jeglichem Menschen stellen muß, ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. Zuerst und vor allem müssen wir wissen, ob wir dieses Dasein rückhaltlos bejahen können — nachher erst können wir uns dazu entschließen, das Wie unseres Lebens zu bestimmen. Die Regel ist, daß der Mensch diesem Problem wie keinem anderen auszuweichen geneigt ist. Aber die Schleichwege und Ausflüchte nützen hier wenig. Es gibt keine menschliche Größe, die sich nicht in erster Linie hier bewähren müßte. Hier muß man ja oder nein sagen und sich der Konsequenz dieser Antwort bewußt sein. Das Problem, ob das Leben einen Sinn habe, kann unter Umständen das Leben kosten. Wenn alles als absurd erkannt würde, würde es sich nicht mehr lohnen zu existieren. In einem sinnlosen Universum scheint es zunächst für den Menschen keine andere Lösung zu geben als den Selbstmord. Das erhebt den Selbstmord in den Rang eines philosophischen Problems.
Von den Selbstmördern wird gesagt, daß sie durch Kummer oder Sorgen in den Tod getrieben werden. Richtiger wäre die Feststellung, daß der Selbstmord die Verzweiflung voraussetzt. Um sich selber töten zu können, muß ein Mensch davon überzeugt sein, daß es für ihn keinen Ausweg mehr gibt. Nur die Hoffnungslosigkeit, in die kein Schimmer von Zuversicht mehr einzudringen vermag, ermöglicht das Paradox, daß sich das Leben selber gegen das Leben wendet. Der Entschluß, der in der Stille einer verzweifelten Seele heranreift, ist der absurdeste aller Entschlüsse und demgemäß auch derjenige, der am schwersten zu fassen ist. In diesem Sinne ist der Selbstmord auch ein Bekenntnis. Ihn auszuführen heißt, ein Urteil über sich selbst und über das Leben abgeben. Der Selbstmörder spricht durch seine Tat das einfache Faktum aus, daß er mit dem Leben nicht fertig wird. Er bekennt seine Niederlage. Er tut damit auch kund, daß ihn das Leben seiner Freiheit beraubt hat — die einzige Freiheit, die ihm noch zu bleiben scheint, ist die zum Tode. Der Selbstbehauptungswille, der sich in ihm aufbäumt, fordert die Selbstvernichtung — ein Pyrrhussieg, wie er schlimmer nicht gedacht werden kann.
Es wäre verfehlt zu glauben, daß das Problem des Selbstmordes nur in die «Pathologie» gehört und den normalen Menschen nicht berührt. Auch der Mensch der Normalität kennt Lebenssituationen, in denen im Menschenherzen der Wunsch aufsteigt, Mühseligkeit und Qual dieses Daseins von sich zu werfen. Man soll weder bagatellisieren noch übertreiben; immerhin mag es sich lohnen, jene Logik kennenzulernen, die in ihrer letzten Konsequenz auf den Entschluß zum Tode führt. Der Selbstmörder durchstößt die Mauern, die uns vom Tode trennen; er überwindet die Angst, die den Menschen überkommt, wenn er ans Nichtsein denkt; dem Tode, vor dem alle flüchten, wirft er sich in die Arme. Um all dies vollbringen zu können und seinem Entschluß die notwendige Härte und Entschiedenheit zu geben, muß er über das Leben und die Welt ein endgültiges, vernichtendes Urteil gefällt haben. Er muß postulieren, daß ihm das Leben nichts mehr zu bieten habe, und daß die Welt im Grunde absurd sei. Es gibt keine Hilfe mehr — weder von Gott noch von den Menschen.
Jeder Einzelne ist auf sich gestellt in diesem hoffnungslosen Universum, das keinen Sinn verwirklicht und den Menschen in die Verzweiflung treibt. Und das Menschenleben selbst: das Netz von Gewohnheiten, in dem wir uns Tag für Tag wiederfinden, die Monotonie des Alltags und der Arbeit, der fremde Mechanismus, der unsern Pulsschlag erstarren läßt? Ein sinnloses Leben ist nur erträglich, wenn man sich seiner Sinnlosigkeit nicht bewußt ist. In dem Augenblick aber, wo die Stunde des Bewußtseins anbricht, und der Mensch seinem Dasein gegenübertritt mit der schonungslosen Hellsichtigkeit des Erkennenden, ist die Wahl unausbleiblich. Hat man die Absurdität des Lebens erkannt, dann muß man auch dazu Stellung nehmen.
Nach Camus ist der Selbstmörder ein Philosoph, dessen Erkenntnishaltung in einem Fehlschlag endet. Der Selbstmörder hält die von ihm erfaßte Absurdität der Welt nicht aus und entflieht ihr. Sieht man von der daraus folgenden Tat ab, so liegt darin durchaus nichts Ungewöhnliches. Der Einsicht in die Absurdität der Welt vermögen nur wenige standzuhalten — die Flucht davon ist die Regel, im Alltagsleben wie in Philosophie, Religion oder Wissenschaft. Der religiöse Mensch klammert die Absurdität der Welt durch die Hoffnung aus, daß eine göttliche Instanz einen höheren Sinn verbürge. Selbst Naturkatastrophen größten Ausmaßes und das durch menschliche Verblendung in Kriegen heraufbeschworene Massensterben hindern den Gläubigen nicht, das Walten einer gütigen, überirdischen Macht anzunehmen.
Der Gläubige stellt sich auf den Boden der Hoffnung, auch wenn sie durch nichts gerechtfertigt ist. Das ist eine Methode, den Blick vom Absurden abzulenken. Hierin liegt aber auch ein Quietismus, der den Menschen beschwichtigt und ihn über das Übel, das weiterbesteht, hinwegtröstet. Mit Camus wäre zu sagen, daß sich die Feigheit nicht rühmen soll, wenn sie ihre Karte auf die Hoffnung setzt. Denn nichts ist leichter als das: das Wünschbare für wahr zu halten.
Der tapfere Mensch will jedoch nicht Wünschbarkeiten, sondern Wahrheiten, selbst wenn sie unangenehm bis zur Unerträglichkeit sind. So gesehen, ist die Philosophiegeschichte weithin eine Geschichte von Niederlagen des Geistes, der sich aus der Absurdität in unbegründete Hoffnungen flüchtete. Die Philosophen waren religiös, das heißt feige, selbst wenn sie ihre Philosophie außerhalb der Religion konzipiert wissen wollten. Wenn Hegel behauptet, daß das Wirkliche vernünftig sei, und daß das geschichtliche Werden die Vernunft zwangsläufig realisiere, so predigt er Religion.
Kierkegaard, der aus seinem absurden Leben in das Paradox des Glaubens flüchtet, opfert den Verstand um einer beruhigenden Gewißheit willen. Nicht anders Jaspers, der beweist, daß die Transzendenz (d. h. Gott) unerkennbar sei, und sich doch vor dieser Transzendenz demütigt. Der «höhere Sinn» hat es diesen Philosophen angetan, und sie folgen im wesentlichen den Spuren von Leibniz, dem das Kunststück gelang, die Übel in der Welt auf die «grenzenlose Güte Gottes» zurückzuführen.
Sisyphos
Der Selbstmord, faktisch oder im philosophischen Sinne, ist aber nicht die einzig mögliche Haltung des Menschen gegenüber dem Absurden. Wenn das Leben tatsächlich keinen Sinn hat, so bedeutet das noch keine Nötigung, sich umzubringen — auch die Flucht in irdische oder überirdische Hoffnungen kann vermieden werden. Es handelt sich vor allem darum, das angesichts der Absurdität gewonnene Bewußtsein nicht preiszugeben. Im Erlebnis der Absurdität klärt sich das Verhältnis des Menschen zur Welt. Wir wissen hernach, was wir von der Welt zu erwarten haben. Wir empfinden das Leben als absurd, weil es unseren Willen verneint. Das bedeutet: der Lauf der Dinge folgt seinen eigenen Gesetzen (Naturkausalität oder Zufall), und es besteht nur wenig Chance, daß sich die Ereignisse unseren Hoffnungen fügen.
Diese Einsicht ist schlimm genug, aber sie besagt nicht, daß unser Handeln aussichtslos sei. Im Gegenteil, man kann daraus die Lehre ziehen: Handeln ohne zu hoffen! Hat man sich diesen Gesichtspunkt zu eigen gemacht, so weiß man, daß Leben mit Überwindung identisch ist. Der Gemeinplatz, daß das Leben ein Kampf sei, enthält viel Wahrheit. Und die Behauptung, daß alles Große aus einem «Dennoch!» erwachse, besteht zu Recht. Die Erkenntnis des Absurden enthält in sich die Aufforderung, der Absurdität Herr zu werden.
Camus schildert den Menschen, der die Absurdität erkannt hat und sich lächelnd in einem illusionslosen Universum zu behaupten versucht. Wie alle Gespenster, so entweicht auch das Gespenst der Absurdität, wenn man nur den Mut hat, es zu stellen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Mensch nicht zu seinen Göttern flüchtet. Er muß sich daran gewöhnen, einen gleichgültigen Himmel über sich zu sehen, und eine Sonne, die sowohl auf seine Freuden als auch seine Leiden unbeteiligt herabscheint. Und der Verzicht auf die Götter lehrt den Menschen, den lebenslänglichen Kampf gegen die Absurdität aufzunehmen, in der Absicht, dieser sinnlosen Welt doch noch ein Maß von Sinn aufzuzwingen. Und wenn die Qual ins Übermenschliche überwächst, ist der Mensch immer noch frei, sie lächelnd zu ertragen.
Am Mythos von Sisyphos veranschaulicht Camus sein Bild vom Menschen. Die Sage erzählt, daß die Götter Sisyphos verurteilt hätten, in der Unterwelt einen Stein auf einen Hügel zu wälzen, und dies bis in alle Ewigkeit, da der Stein jedesmal, wenn der Gipfel erreicht wird, den Abhang herunterrollt. Mit einem Wort: Sisyphos, der Held des Absurden, ist zu ewiger Qual verdammt. Seine Anstrengungen haben keinen Sinn, denn er weiß, daß der Stein immer aufs neue rollen wird. Die fortgesetzte Mühsal zeitigt keinen Erfolg, und die Flucht in die Hoffnung ist Sisyphos versagt. Er hat es aufgegeben zu hoffen und wälzt dennoch seinen Stein.
Man kann Sisyphos nur verstehen, wenn man ihn auf dem Abstieg zu seinem Stein betrachtet. Der Abstieg ist die Zeit des Bewußtseins. Sisyphos überblickt den nutzlosen Kraftaufwand, an dem er sich verschwendet hat, und er denkt an die vergebliche Bemühung, die seiner wartet. Trotzdem ist er weit davon entfernt, den Kampf aufzugeben. Er erkennt, daß das Schicksal vom Menschen abhängt, und daß das Leben nur Sinn hat, wenn man die Steine wälzt. Die schmerzliche Qual, die solange dauert wie das Menschenleben selbst, bezieht Sisyphos in sein Dasein ein, ohne daß er einen Trost zu suchen gewillt wäre. Er bekennt sich zur Erde und verleugnet den Himmel.
Er geht seinen Weg durch das Land der Hoffnungslosigkeit, ohne zu fragen, wie weit er sich seinem Ziele genähert habe. Sisyphos gebührt Ruhm dafür, daß er bereit ist, seine Last bis zum Tode zu tragen. Er jammert nicht, weil er weiß, daß das Jammern die Steine nicht bewegt. In seinem frohmütigen Herzen, das sich keinem Gott unterwirft, wächst kein Groll gegen diese Welt, in der das Abenteuer eines Menschenlebens abläuft. Da es nur diese eine Welt gibt, wäre es widersinnig, sie nicht zu bejahen, selbst dann, wenn sie für den Menschen nur die zu wälzenden Steine bereit hält. Die Auflehnung und der endlose Kampf von Sisyphos enthalten keine Bitterkeit; Camus sagte: «Man muß sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.»
Die Pest
Sisyphos ist nicht nur ein Held der Sage — er ist eine Wirklichkeit des Alltags, sichtbar werdend in ebensovielen Variationen wie die Absurdität der Welt, die durch ihn regiert wird. In seinem Roman «Die Pest» hat Camus das Drama von Sisyphos auf die Gegenwart übertragen. Die Stadt Oran wird eines Tages — man befindet sich in den Jahren um 1940 — von der Pest überfallen. Die Ratten, die den Bazillus in sich tragen, drängen sich massenweise aus den Kellern auf die Straße, wo sie verenden. Die Krankheit greift auf die Menschen über. Die Pest hält ihren Einzug in die Stadt und macht sich darin heimisch. Von der Außenwelt vollständig isoliert, ist die Stadt mehr oder weniger hilflos — die spärlichen Impfstoffe, die die Regierung sendet, erweisen sich als wirkungslos — der rasenden Epidemie ausgeliefert.
Es bleibt nichts anderes übrig, als mit den verfügbaren Mitteln den Kampf gegen die Seuche aufzunehmen. Die Spielregeln dieses grausamen Spiels werden vom Tode diktiert. Die Schilderung Camus' zeichnet die verschiedensten Charaktere und folgt mit bewundernswertem psychologischem Feinsinn den Lebensäußerungen derer, die nicht mehr auf ihr Leben hoffen dürfen — die Chancen des Todes stehen in dieser Wette, an der jeder Stadtbewohner teilhat, von vornherein zehn zu eins.
Der Roman eröffnet zahlreiche Möglichkeiten zur Deutung. Daß er symbolisch gemeint ist, zeigt schon sein Motto: «Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt» (Daniel Defoe). Zweifelsohne ist es richtig, darauf hinzuweisen, daß die in der Chronik dieser Epidemien berichteten Ereignisse weitgehende Parallelen mit dem Verlauf des Zweiten Weltkrieges — Vordringen der Deutschen in Afrika usw. — aufweisen. Das ist jedoch nicht das Wesentliche.
Wenn Camus auch dieses zeitgenössische Geschehen bei der Ausarbeitung seines Romanes vor Augen gehabt hat, erhebt sich seine Darstellung zu einer Allgemeingültigkeit, die sich nur einer Deutung unter weitestem Horizont erschließt. Sowohl die Figuren als auch die Szenerie dieses Schauspiels weisen über sich selbst hinaus. Der eigentliche Schauplatz des Dramas ist nicht die Stadt Oran, sondern die Welt — und in den verschiedenen Personen, die Camus in ihrem Leben, Lieben und Sterben schildert, erblicken wir den lebenden, liebenden und sterbenden Menschen, der im Grunde den Zeitenlauf überdauert.
Der Arzt Bernhard Rieux ist ein Bruder von Sisyphos. Er nimmt den hartnäckigen und hoffnungslosen Kampf gegen die Seuche auf. Er sieht die Absurdität der Welt und weiß, daß es keine Hoffnung gibt. Epidemien lassen sich nicht durch Hoffnungen bekämpfen, und wenn selbst die Medikamente versagen, kann der Mensch nichts anderes tun, als das aussichtslose Spiel zu Ende zu spielen. Rieux glaubt nicht an Gott, und seine Religion ist einzig die Gemeinschaft mit dem leidenden Menschen. Er verzichtet auf den metaphysischen Trost und hat das Ziel gewählt, dem Tode sein Opfer nach Möglichkeit zu entreißen. In diesem Universum ohne Götter gibt es für den Menschen nur noch die Pflicht gegenüber dem Mitmenschen. Sisyphos versteht die Qual, die jeder empfindet, der Steine wälzt, und er weiß auch, daß jeder Mensch seinen Stein zu wälzen hat. Der Mensch, der um die Absurdität weiß, kennt nur die Religion der Brüderlichkeit.
Wenn der Himmel über uns stumm geworden ist, und der Mensch sich auf sich selber zurückgeworfen sieht, gibt es nichts Höheres, als mit sich selbst und der Welt ins reine zu kommen. Das heißt mit andern Worten: man muß sich mit seinem Stein abfinden können. Da ist Tarrou, der Freund Rieux', der aus eigenem Antrieb einen «Gesundheitsdienst» organisiert. Da ist Castel, der alte Arzt, der einen Impfstoff herzustellen versucht. Und die vielen anderen, die sich der Einsicht nicht verschließen, daß in der Gemeinschaft der Leidenden jeder seinen Beitrag zur Linderung des allgemeinen Übels zu leisten hat.
Aber es fehlen auch nicht die, die nicht auf der Ebene der Verantwortlichkeit stehen, und denen die Sorge um sich selbst mehr bedeutet als die Mitmenschlichkeit. Der Journalist Rambert, der durch Zufall in die allgemeine Quarantäne der Stadt einbezogen wird, versucht lange Zeit, aus der Stadt zu flüchten. Rieux versagt ihm hierzu keineswegs die Hilfe; der verantwortliche Mensch entschlägt sich der Moral, mittels derer die Selbstgerechtigkeit leicht geneigt ist, zu verurteilen. Camus lehrt eine Ethik des guten Beispiels, nicht einen selbstgerechten Moralismus. Wer die Moral vorlebt, hat es nicht nötig, sie durch großsprecherische Worte zu verkünden. Auch Verantwortungsbewußtsein kann ansteckend wirken — Rambert weist die Möglichkeit der Flucht von sich und gliedert sich in den «Gesundheitsdienst» ein.
Die Stellung Camus' zur Religion wird in der «Pest» mit außergewöhnlicher Klarheit zum Ausdruck gebracht. Der Jesuitenpater Paneloux hält eine Predigt, in der er das Unheil, das über die Stadt hereingebrochen ist, als eine Strafe Gottes erklärt. «Meine Brüder, ihr seid im Unglück, meine Brüder, ihr habt es verdient.» Das ist die Moral des Sich-Abfindens mit dem Übel, die in der Geschichte der Religionen eine ungeheure Rolle spielt. Die Absurdität der Welt, hier als Epidemie in Erscheinung tretend, wird nicht nur kampflos akzeptiert, sondern auch von menschlicher Schuld hergeleitet. Der religiöse Mensch betrachtet das Mißgeschick als eine Prüfung, die ihm sein Gott auferlegt. Er verbindet mit dem Quietismus das Schuldgefühl. In diesem Sinne ist er das absolute Gegenteil des Menschen der Auflehnung und der Empörung. Rieux gegen Paneloux, Sisyphos gegen die Götter. Tarrou fragt Rieux, ob er nicht auch der Meinung sei, daß die Krankheit ihr Gutes habe, indem sie die Menschen zum Denken zwinge, wie Paneloux behauptet. Rieux verneint — das allgemeine Leiden ist zu groß, als daß es sich mit der Hoffnung auf sittliches Größerwerden Einzelner bagatellisieren ließe. Und auf die Frage, ob er an Gott glaube, antwortete er — und damit Camus — «Nein». «Sehen Sie, sagte Tarrou, «weshalb zeigen Sie selbst so viel Aufopferung, wenn Sie doch nicht an Gott glauben? Ihre Antwort wird mir vielleicht helfen, die meine zu finden.»
Ohne aus dem Schatten herauszutreten, erwiderte Rieux, daß er bereits geantwortet habe. Wenn er an einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, den Menschen zu heilen und die Sorge ihm überlassen. Aber kein Mensch auf der ganzen Welt, nein, nicht einmal Paneloux, glaube an einen solchen Gott, obwohl er an ihn zu glauben glaube. Denn es gebe sich ihm ja niemand völlig hin, und er, Rieux, glaube wenigstens in dieser Beziehung auf dem Weg zur Wahrheit zu sein, indem er gegen die Schöpfung, so wie sie sei, ankämpfe. («Die Pest», S. 122.) Und zu Paneloux selbst sagt Rieux: «Nein, Pater… Ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.» Das heißt: Selbst wenn Gott existierte, wäre ein Zustand der Versöhnung unmöglich, denn die Gottheit, die diese Welt geschaffen hätte, könnte nur als böswillig und satanisch gedacht werden.
Der hellsichtig gewordene Mensch, der sich als Herr seines Schicksals weiß, verschreibt sich dem Geist der Revolte. Die Liebe, die frühere Generationen an ein eingebildetes, himmlisches Wesen verschwendet haben, richtet er nur noch auf die Erde und die Mitmenschen. Das ist sein Glaube, seine Leidenschaft und seine Zukunft. Wer die Existenz Gottes negiert, darf nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Sobald man auf den Himmel verzichtet hat, wird die Vertrautheit mit dem Diesseits zum höchsten Ziel. Der Mensch kann die Fremdheit in dieser Welt nur dann überwinden, wenn er sich in der mitmenschlichen Gemeinschaft eine Heimstätte schafft, ein Zuhause, das ihm aus seiner Anteilnahme an den Freuden und Leiden des Mitmenschen erwächst. Der Roman
«Der Fremde»
zeichnet einen Menschen, der wohl die Illusionen verloren hat, aber sie nicht durch leidenschaftliches Realitätsbewußtsein zu ersetzen vermag; so bleibt der Angestellte Meursault «fremd» in dieser Welt, die uns nur dann ein Antlitz der Vertrautheit zuwendet, wenn wir sie durch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut zu beleben gewillt sind. Der «Fremde» ist nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst entfremdet. Er lebt ohne Innerlichkeit, sieht sich gleichsam nur von außen — er hat «zu viel» Distanz von sich. So nimmt er gleichmütig den Tod seiner Mutter hin, verliebt sich mit derselben Gleichmütigkeit, die kein entschiedenes Gefühl kennt. An einem heißen Sommertag tötet Meursault am Strande des Meeres einen Araber. Der Mann hatte ihm nichts angetan und interessierte ihn im Grunde nicht. Er war der Bruder einer Frau, die von einem Bekannten Meursaults beleidigt wurde. Die Sommerhitze und das Meer, ein Schwindel und eine dumpfe Betäubung und die drohende Gebärde des anderen haben den Pistolenschuß ausgelöst, der Meursault selbst am meisten überrascht. Er hat gemordet ohne Bewußtsein. Er wird nie begreifen, was er getan hat.
Da setzt nun die Maschinerie der Justiz ein, die ein Opfer gewonnen hat. Mit stärkster Eindrücklichkeit schildert Camus das Verfahren, in dem die Gesellschaft das Schauspiel der Gerechtigkeit aufführt. Der Staatsanwalt entwickelt jene für den Angeklagten grauenhafte Beredsamkeit, die das ganze Vorleben des Mörders in Schuldhaftigkeit zu verwandeln weiß. Die Chancen vor den Geschworenen sind durchaus ungleich — Meursault hat Mühe, dem verwirrenden Gang der Verhandlungen zu folgen, und er weiß nicht recht, was mit ihm geschieht. Er vermag sich nicht einmal richtig zu verteidigen. Als Anwalt hat ihm der Staat einen alten Verteidiger gestellt, der seinen Schützling eher belastet als verteidigt. So ist denn alles dazu bereit, die Hetzjagd zu ihrem bitteren Ende zu führen — das Wild, längst betäubt vom Lärm der Treiber, der von allen Seiten auf es eindringt, muß nur noch abgeschlachtet werden. Das vom Staatsanwalt in eleganter Rede geforderte Todesurteil wird von den Geschworenen angenommen.
Es ist wahr, daß Meursault gemordet hat. Aber, so fragt Camus, ist nicht die Gesellschaft, die sich nun zum Richter aufwirft, selber auch Mörder? Das Wort Gerechtigkeit ist eine Floskel. Man muß die Dinge sehen, wie sie wirklich sind. Richter, Staatsanwalt, Geschworene, Priester in den Gefängnissen — und der Gefangene, der sich unbegreiflichen Mächten ausgeliefert sieht. Der Mord, den er begangen hat, geschah in einem krankhaften Bewußtseinszustand, einer momentanen Verrücktheit, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Die Gesellschaft aber, die ihm den Prozeß erklärt, mordet kalt und bewußt. Sie wird selbst dann mit dem Pathos der Gerechtigkeit morden, wenn sie durch ihre wirtschaftlichen Zustände den Menschen in das Verbrechen treibt. Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung hat nach Camus keinen Grund, sich über den Verbrecher erhaben zu fühlen — sie ist die Quelle der Kriminalität, die Pflanzstätte des Verbrechens. Die Absurdität der Welt ist nirgends so offensichtlich wie im sozialen Bereich.
Der zum Bewußtsein seiner selbst gelangte Mensch kann nichts anderes tun, als sich gegen die Bedingungen der gegenwärtigen Sozialordnung aufzulehnen. Die ihm entsprechende Lebensform ist die der permanenten Empörung. Camus' Buch
«Der Empörer» (L'homme révolté),
das 1952 erschienen ist, führt Sisyphos in den Bereich der Sozietät ein. Es handelt sich um eine philosophische Untersuchung, die das Problem der Revolte anhand von historischen, politischen, philosophischen und ästhetischen Fragen aufzeigt. Die ganze abendländische Vergangenheit — Griechenland und Rom, Rousseau, Saint-Juste, Sade, die Hegelsche Philosophie, Nietzsche, Marx, die russischen Nihilisten, Dostojewskij usw. — wird unter dem Gesichtspunkt der Empörung behandelt. Wenn der Mensch in seiner Verlassenheit zu sich kommt und sich einer absurden Welt gegenüber sieht, kann er, nach Camus, entweder den Selbstmord wählen oder sich entschlossen diesem Dasein zuwenden, das nur durch diese Zuwendung Sinn erhält. Gleichgültigkeit ist hier ausgeschlossen. Das Ich hat die Welt absurd genannt und bekennt sich somit zum Willen, diese Welt zu verändern. Die Absurdität der Welt zur Kenntnis zu nehmen heißt: sich gegen sie auflehnen. In diesem Akte der Empörung findet der Mensch zu sich selbst — in Abwandlung der Formel von Descartes: Ich empöre mich — deshalb bin ich! Einmal auf dem Standpunkt der Revolte stehend, erblickt der Mensch in seinen Mitmenschen Bedrückte seiner Art, er sieht sich in der Gemeinschaft der Leidenden, zu der er sich selbst als zugehörig betrachten muß. Die Auflehnung im Namen von Menschenrecht und Menschenwürde kann nie für den Einzelnen allein geschehen — sie geschieht für alle Menschen. «Ich empöre mich, deshalb sind wir!»
Empörung und Revolte sind nicht dasselbe wie die Revolution. Der Revolutionär will zwar auch im Endergebnis die allgemeine Freiheit, aber für den Augenblick fordert er die Diktatur. Der Empörer jedoch will das größtmögliche Maß von Freiheit schon in diesem Augenblick, und er ist nicht geneigt, für das vage Versprechen einer Freiheit künftiger Generationen die Verwirklichung gegenwärtiger Tyrannei zuzulassen. Er behält das Gleichgewicht dort, wo der Revolutionär es verliert. Er strebt nicht nach Totalität, sondern will die fortgesetzte Empörung, die die Grenzen der menschlichen Freiheit immer weiter hinausschiebt. Er will weder irdische Verheißungen noch Vertröstungen auf das Jenseits. Die Ankündigung eines zukünftigen Gottesreiches auf Erden oder im Himmel ist ihm gleich gültig. «In beiden Fällen muß man warten, und während dieser Zeit hört der Unschuldige nicht auf zu sterben Die Arbeitermassen, müde geworden des Leidens und des Sterbens, sind Menschen ohne Gott. Unser Platz ist von nun an an ihrer Seite.» Für den freien Menschen gibt es kein höheres Ziel als die Verwirklichung der Freiheit aller. Er gibt sich der Leidenschaft der Revolte hin, dieser «unbegreiflichen Großzügigkeit, dieser seltsamen Liebe. Ihr Stolz ist, keine Berechnungen auf die Zukunft anzustellen und alles an das gegenwärtige Leben und die lebenden Brüder zu verschwenden. Gerade das ist die eigentliche Hingabe an die Menschen der Zukunft. Die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft besteht darin, alles der Gegenwart zu geben.»
Camus' Denken kulminiert in der Aufforderung zur Revolte im Sinne eines unablässigen Kampfes um ein höheres Maß von Freiheit. Das Ideal des Menschen ohne Gott ist die Befreiung der Menschheit; sein Glaubensbekenntnis lautet: «Der Empörer verneint Gott und hat teil an den Kämpfen und am gemeinsamen Schicksal. Wir werden Ithaka wählen, die treue Erde, den einfachen und kühnen Gedanken, die hellsichtige Handlung, die Großzügigkeit des Menschen, der weiß. In diesem Lichte bleibt die Erde unsere erste und letzte Liebe. Unsere Brüder atmen unter demselben Himmel wie wir, und die Gerechtigkeit ist lebendig… Die Zukunft ist die einzige Transzendenz der Menschen ohne Gott.»
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