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«Wir alle, die ganze Menschheit ist Ihnen zu Dank verpflichtet …»

07. April 2013

«Wir alle, die ganze Menschheit ist Ihnen zu Dank verpflichtet …»

Laudatio anlässlich der Preisverleihung der Solbach-Freise-Stiftung an Prof. Dr. S.-H. Günther

von Anne Solbach-Freise

 zf. Am 30. September 2006 wurde Prof. Dr. Siegwart-Horst Günther in der Evangelischen Akademie Iserlohn im Rahmen der Veranstaltung «Zivilcourage in der Risikogesellschaft» der Preis der Solbach-Freise-Stiftung für Zivilcourage verliehen. Das Motto der Stiftung lautet «Demokratie wagen   – Zivilcourage zeigen». Dieser Preis soll nicht nur Menschen ehren, die die «Bürgertugend» Zivilcourage zeigen und «eingreifen statt zuschauen», sondern soll auch die Mitbürger auffordern, die Preisträger zu unterstützen und selber Verantwortung zu übernehmen. Die Laudatio hielt Anne Solbach-Freise, die Gründerin der Stiftung.

Lieber Herr Professor Günther!

Am Ende des letzten Weltkrieges waren Sie 20 Jahre und hatten mehr erlebt als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben: Krieg, Nazi-Zeit, Fronteinsatz, schwere Verwundung (dekoriert), Einweisung in verschiedene Gefängnisse ohne ersichtlichen Grund, zuletzt Befreiung aus dem KZ Buchenwald. Vorher in der Schule hatten Sie schon Prügel bezogen wegen Ihres Andersseins. Sie entschlossen sich zum Medizinstudium. Es sollte Ihnen Erfüllung bringen. Als gefragter Arzt und Wissenschafter lehrten Sie an Universitäten in der halben Welt. Sie waren erst 31 Jahre, als Sie dem Ruf nach Kairo folgten.

1991 erkannten Sie als erster die schrecklichen Auswirkungen der Uranmunition. Sie wurde tonnenweise von amerikanischem und englischem Militär im Golf-, Bosnien- und Kosovo-Krieg verschossen. Die radiochemotoxische Wirkung betrifft nicht nur das Militär, sondern genauso die Zivilbevölkerung. Die Folgen sind unübersehbar überall die gleichen: Leukämie und genetische Defekte, Missbildung bei Neugeborenen und Krebs bei Erwachsenen.

Seit diesen Veröffentlichungen hat man Sie verfolgt. Durch Ihr Engagement haben Sie sich Feinde gemacht, vor allem auch in der Nato; geht es doch um Entschädigung der Kriegsveteranen. Noch 1999 leugnet die Nato die Gefährlichkeit von Depleted Uranium, kurz DU genannt.

Spricht man Sie auf diese für Sie bedrohenden Situationen an (allein zwei Anschläge auf Ihr Leben), sagen Sie nur: «Schreiben Sie nicht alles auf, das glaubt ja doch keiner.»

Und dennoch klären Sie weiter auf, weltweit werden Sie als Redner und Zeuge eingeladen. Sie schreiben, sprechen, dokumentieren, ächten dieses Kriegsverbrechen und mahnen.

Als Mann der Tat lassen Sie 1992 ein Projektil in Berlin untersuchen. Nach der Bestätigung bekommen Sie einen Strafbefehl wegen Freisetzung ionisierender Strahlen. Was für eine Ironie! Sie werden bestraft für etwas, das es gar nicht geben soll; und Sie selbst werden durch den Umgang mit den toxischen Geschossen selbst Opfer der Strahlung. Aber da sind auch die hohen Ehrungen aus aller Welt für Ihre Arbeit und Ihren Mut. Stellvertretend seien hier nur die Auszeichnungen durch den damaligen Generalsekretär der Uno, Boutros Boutros-Ghali, und die von Ihnen besonders geschätzte Friedensmedaille der Universität Nagasaki genannt. Nur in Ihrem Heimatland nimmt man Ihre hohen Verdienste nicht zur Kenntnis. Da werden Sie als Querdenker und unbequemer Mahner auf gröbste Weise ins Gefängnis gesteckt und erst nach einem Hungerstreik befreit. Ich konnte selbst noch in den letzten Wochen feststellen, dass die lokale Presse Ihres Heimatortes nicht einmal Ihren Namen kannte.

Neben den Veröffentlichungen und Anklagen leisten Sie selbst aktive Hilfe für die Kranken im Irak, die, doppelt gestraft durch das westliche Embargo, Medikamente, Prothesen und Nahrung bekommen. Mit Freunden gründen Sie das «Gelbe Kreuz International» zur Hilfe vor allem für betroffene Kinder, die mit der überall herumliegenden Munition gespielt haben und kontaminiert sind.

Mich selbst hat betroffen gemacht, wie hinter der ersten Front quer durch alle Nationen  eine zweite besteht mit Spionage, Bespitzelung, Denunziationen und Schlimmerem. Unter anderem wollte auch der Bundesnachrichtendienst Sie für seine Zwecke gewinnen.

«Zwischen den Grenzen» betiteln Sie Ihre Biographie. Tatsächlich scheinen Sie immer im Spannungsfeld gegensätzlicher Pole gelebt zu haben: Da ist der Nazi-Vater als Gauleiter und die polnisch-jüdische Mutter; die Unmenschlichkeit des Krieges und Ihre humanitäre Hilfe, die Nazis und die Amerikaner, die arabische Welt und Israel, Ihre ursprüngliche Heimat in Ostdeutschland und Ihre westdeutschen Erfahrungen, Ihre aufklärende Arbeit und die Verschleierungstaktik, Ihr grosser humanistischer Einsatz und das Bekämpft- und Verschwiegenwerden, und nicht zuletzt die weltweiten Ehrungen und gleichzeitig die Verfolgungen und Denunzierungen.

Wie hält man das alles aus?

Diese ganz starke Motivation ist wohl auch mit der «Ehrfurcht vor dem Leben» zu erklären   – dem Lebensmotto Albert Schweitzers, bei dem Sie in den 60er Jahren eine Zeitlang gearbeitet haben. Dass Sie über all dem ein manchmal schwieriger Mensch wurden, ist wohl gut nachzuvollziehen.

Und nun geraten Sie selbst in Not: Menschen mit hoher Verantwortung für Ihre Mitwelt vernachlässigen häufig Ihre eigenen Belange. So müssen Sie heute um Pässe, Krankenkasse und Rente kämpfen. Selbst Ihr Haus will man Ihnen nehmen.

Glücklicher als alle Titel, Medaillen und Urkunden   – sagen Sie von sich   – macht Sie ein dankbarer Blick aus Kinderaugen oder ein freundlicher Händedruck eines Notleidenden.

Besonders bewundernswert empfinde ich es, dass Sie ohne Hass, sondern mit Zuversicht und Verantwortung Ihre Stimme erheben. Nach Brecht: Die Schwachen kämpfen nicht, die Stärkeren Stunden oder gar Jahre, aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. «Diese sind unentbehrlich.»

So ein unentbehrlicher Mensch sind Sie, Herr Professor Günther. Wir alle, die ganze Menschheit ist Ihnen zu Dank verpflichtet für Ihren hohen, gewaltfreien Kampf, dieses Kriegsverbrechen beim Namen zu nennen und friedliche Auseinandersetzungen anzumahnen. Möge Ihre Botschaft viele Herzen und Hirne erreichen! Ich selbst freue mich dankbar, die Versäumnisse unseres gemeinsamen Vaterlandes für Ihre hohen Verdienste mit einem kleinen Beitrag heute wiedergutmachen zu dürfen.

Herzlichen Glückwunsch!

Quelle: Nr.44 vom 31.10.2006
www.zeit-fragen.ch

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