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„Es gibt nicht nur ein Lambarene, jeder kann sein Lambarene haben“

06. April 2013

„Es gibt nicht nur ein Lambarene, jeder kann sein Lambarene haben“

Zum im 2005 erschienenen und leider bereits vergriffenen Buch: „Mit dem Herzen einer Gazelle und der Haut eines Nilpferdes   – Albert Schweitzer in seinen letzten Lebensjahren und die Entwicklung seines Spitals bis zur Gegenwart“ von Jo und Walter Munz.

von Urs Knoblauch, Pädagoge und Kulturpublizist, Fruthwilen TG

Überall in der Welt findet man Menschen, die sich uneigennützig in den Dienst der Ärmsten und Hilfesuchenden stellen. Es sind oft Menschen, die bescheiden und kompetent im Hintergrund wirken. Sie bauen Hilfswerke auf oder leisten in humanitären Organisationen vorbildliche Arbeit. Sie alle sind Hoffnungsträger der Mitmenschlichkeit, eines gelebten Christentums und des Friedens. Die Schweiz hat eine wertvolle humanitäre Tradition und es ist eine wichtige Erziehungsaufgabe, diesen grossen Schatz über die Generationen weiterzugeben. Die Bevölkerung, viele Vereine und Vereinigungen, die beiden Landeskirchen und viele Hilfsorganisationen leisten immer wieder beeindruckende Hilfe, nicht nur in aktuellen Notlagen.

Auf der ganzen Welt finden wir solche vorbildlichen Hilfswerke und Persönlichkeiten, die für die junge Generation Vorbilder ihrer Lebensgestaltung werden. Das Wirken Albert Schweitzers stellt einen unschätzbaren Beitrag zu „Kultur und Frieden“ dar und es liegen auch zahlreiche Texte und Publikationen des grossen Humanisten und verschiedener Autoren zu dieser Thematik vor. Wenn die Lektüre dieser Bücher und Texte den Menschen innerlich so ansprechen, dass daraus Konsequenzen gezogen werden, so wie es Albert Schweitzer ausdrückte:

„Es gibt nicht nur ein Lambarene, jeder kann sein Lambarene haben“.

Mitmensch sein und Verantwortung übernehmen

So war es auch beim jungen Mediziner Walter Munz, der sich schon früh am Wirken von Albert Schweitzer (1875-1965) orientierte. Er hatte den Wunsch, nach seinem Studium und der nötigen beruflichen Erfahrung nach Lambarene zu gehen. Er wurde noch von Albert Schweitzer persönlich als Nachfolger bestimmt und war während vielen Jahren als Chefarzt und Direktor zusammen mit seiner Frau und einem engagierten Mitarbeiterteam in Lambarene tätig. Walter und Jo Munz sind in Will /SG wohnhaft und haben drei erwachsene Töchter. Walter Munz war nach seinem Medizinstudium und der Spezialausbildung in Allgemeinchirurgie seit 1961 während 10 Jahren in Lambarene, dann war er während 18 Jahren als Chirurg im Spital in Wil/SG in der Schweiz tätig und von 1991 bis 1998 leitete er die Sozialmedizinische Krankenstation für Suchtkranke und Aidspatienten „Sune-Egge“ in Zürich.

Seine Frau war als Hebamme und Krankenschwester in Holland, Südafrika und in Lambarene tätig. In der Schweiz war sie langjährige freiwillige Betreuerin von Gefangenen und Mitarbeiterin in Kontakt- und Anlaufstellen für drogenabhängige Menschen. Als Maltherapeutin gründete Jo Munz 1999 das „Atelier d’expression et de création“ im Albert-Schweitzer-Spital von Lambarene. Die verschiedenen Jahresberichte und maltherapeutischen Arbeiten geben einen guten Einblick in die grosse kreative Betreuungsarbeit. Walter Munz und seine Frau wirken bis heute mit ganzer Kraft für die Weiterführung des Urwaldspitals mit den Schweizerischen und internationalen Hilfsvereinigungen für das Albert Schweitzer-Spital.

„Am Menschen Gutes tun“

Das 2005 erschienene und leider bereits vergriffene Buch: „Mit dem Herzen einer Gazelle und der Haut eines Nilpferdes   – Albert Schweitzer in seinen letzten Lebensjahren und die Entwicklung seines Spitals bis zur Gegenwart“ von Jo und Walter Munz enthält sehr eindrückliche und gut lesbare Erlebnisberichte von zahlreichen Mitarbeitern des weltberühmten Urwalddoktors. (Verlag Huber, CH-8501 Frauenfeld, ISBN 3-7193-1381-6). Zum ersten Mal wird die Spitalgeschichte von Lambarene bis in die Gegenwart dargestellt. Auch die Ausgabe in französischer Sprache ist vergriffen und es ist zu hoffen, dass das Buch neu aufgelegt wird. Erfreulich ist, dass demnächst eine englischsprachige Ausgabe erscheinen wird.

Die grosse Nachfrage nach diesen Büchern ist ein Zeichen der Hoffnung, dass die junge Generation einen Sinn im Leben sucht und zu Gerechtigkeit und zum Gemeinwohl aller Menschen auf diesem Globus beitragen möchte. Den Publikationen ist eine grosse Ausstrahlung zu wünschen.

„Lambarene“ ist der Name der kleinen Stadt am Flussufer des Ogowe wo Albert Schweitzer sein Spital gründete. Der ursprüngliche Name „Lembareni“ bedeutet in der dortigen Galoa-Sprache „Wir wollen es versuchen!“ Jo und Walter Munz betonen im Buch, dass grosse Anstrengungen und umfassende Fähigkeiten nötig sind, um Lambarene zu erhalten:

„Wer in Afrika etwas Rechtes leisten will, braucht das Herz einer Gazelle und die Haut eines Nilpferdes. Zur Vorstellung  der Gazelle gehören Wachsamkeit, Mut, Risikobereitschaft und ausdauernde Rennfähigkeit. Dies alles haben wir in Lambarene nötig. Vom Nilpferd  brachten wir das Beharrungsvermögen und seine dicke Haut als Symbol des Schutzes gegen Angriff und Kritik. Für uns Nachfahren ist auch das Gedächtnis des Elefanten notwendig, damit wir Albert Schweitzer nicht vergessen.“

Denn, so schreiben die Autoren weiter:

„Albert Schweitzer, seine Botschaft der Ehrfurcht vor dem Leben und die Erinnerung an sein Spital in Gabun, Äquatorialafrika, rücken allmählich in die Vergangenheit. Aber sie dürfen nicht in die Vergessenheit absinken. Der Doktor hatte seiner Tochter Rhena Schweitzer-Miller für die Zeit nach seinem Tode die Verwaltung des Krankendorfes übergeben. Mir hatte er seine Nachfolge als Chefarzt des Spitals anvertraut. Im Sommer des Jahres 2000 besuchte Frau Rhena das Spital ihres Vaters zum letzten Mal, gemeinsam mit uns beiden. Miteinander erzählten wir gerne von unseren Erlebnissen aus früherer Zeit. Im Besonderen gaben wir die Erinnerung an die zwei gabunischen Hüterinnen des Museums weiter. Diese beiden Frauen haben den Besuchern das alte Spital zu zeigen. Wir hatten mit ihnen interessante Stunden des Erzählens und des Fragens. Zum Schluss wollte eine der Afrikanerinnen wissen: Ist es wahr, was wir gehört haben? Hat der Grand Docteur wirklich die Atombombe erfunden? Wir waren perplex über diese in sympathischer Arglosigkeit gestellte Frage. Sie bezeugte eine fast unglaubliche Lücke im Verständnis von Albert Schweitzer.“

Dieses Erlebnis trug unter anderem zum Entschluss bei, Albert Schweitzers Kernanliegen und Wirken der „Ethik von der Ehrfurcht vor dem Leben“, die Spitalentwicklung und die Berichte von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Zeitzeugen aus den letzten fünf Lebensjahren von 1961 bis 1965 von Albert Schweitzer in einem Buch festzuhalten:

„Am Abend dieses Tages entstand der Gedanke, unsere Erfahrungen mit Albert Schweitzer und seinem Krankendorf aufzuschreiben. Er hatte 1913 gemeinsam mit seiner Frau Helene ‚Lambarene‘ gegründet und bis zu seinem Tod im Jahr 1965 geleitet. Sein Spital arbeitet auch heute intensiv weiter und stellt sich immer aufs Neue den Herausforderungen der Zeit.“

Die „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“

Albert Schweitzers allgemeingültige „Ethik von der Ehrfurcht vor dem Leben“ geht wie eine Melodie durch das Buch. Die Berichte vermitteln einen sehr guten Einblick in das Leben und Wirken des Urwalddoktors. So berichtet Rhena Schweitzer-Miller (Schweiz/USA) wie sie in ihrem kleinen Labor zu dritt arbeiteten: „Wir konnten etliche bakteriologische Untersuchungen durchführen zur Entdeckung von Tuberkulose, Lepra, Gonorrhoe, und wir prüften auch die Rückenmarksflüssigkeit auf die Erreger von Syphilis und Schlafkrankheit. (...) Wir konnten jetzt Blutgruppen bestimmen und Bluttransfusionen geben. Dies wurde immer wichtiger wegen der Zunahme  von Unfällen, deren Opfer ins Spital gebracht wurden.“ Christiane Engel (Schweiz/USA), die Enkelin Schweitzers erinnert sich an die Lehrjahre als Jugendliche und als Medizinstudentin:

„Zwischen 1958 und 1967 verbrachte ich meine jährlichen Schulferien   – und später die Semesterferien meiner Universität   – in Lambarene, lernend und arbeitend im Spital meines Grossvaters Albert Schweitzer. Die dort verbrachte Zeit war von unermesslicher Bedeutung für mich (...) Seine Idee der Ehrfurcht vor dem Leben spürte ich in meinem Innersten. Sie war überall gegenwärtig und überzeugend spürbar. In meiner kindlichen Welt bedeutete ‚Lambarene‘ das Paradies auf Erden, wo Menschen, Tiere und Pflanzen in Harmonie miteinander lebten und wo Leiden Erlösung fand.“

Jo Munz-Boddingius (Holland/Schweiz) erinnert sich gern an Rhena, „der Tochter von Albert Schweitzer. Sie kam für sechs Monate und arbeitete im Labor. Rhena ging in offenen hölzernen Sandalen und trug ein kleines blaues Hütchen. Es war, als ob ein frischer Wind durch das Spital blase, und ich bewunderte ihre Art, wie sie mit allen Krankenschwestern umging, mit jungen und älteren...“ Mit Dankbarkeit berichtet Margrit Stark-Bernhard (Schweiz) von ihrer Tätigkeit in der ‚Lingère‘, wo Waschfrauen, Büglerinnen, Schneider und Matratzenmacher zusammenarbeiteten: „Mit meinen 21 Jahren war ich eigentlich noch zu jung für diese grosse Aufgabe. Am Anfang hatte ich in Lambarene ein Zimmer neben der Hebamme Joan Boddingius   – heute Jo Munz. Sie half mir, mich einzugewöhnen. Ihre uneigennützige Freundschaft werde ich nie vergessen.“ Daniel Lourdelle (Frankreich/Kanada) gibt in seinem Bericht Einblick, wie er mit Albert Schweitzer immer bessere Häuser aus Beton, vom Sand und Steinen des Ogoweflusses baute:

„Mit der Zeit waren über 70 Gebäude entstanden   – ohne Lepradorf mitzuzählen...“

Poul Erik Rasmussen (Dänemark/Kanada) erinnert sich im Bericht „Als Zimmermann bei Albert Schweitzer“ an das Glockengeläut zu Beginn und am Ende des Arbeitstages. Beeindruckend ist auch der Bericht der Hausbeamtin im Spital, die dort auch ihren Verlobten fand: „Als kleines Mädchen hörte ich schon von Albert Schweitzer, durch meine Eltern und die Lehrerin der Schule. Er beeindruckte mich. Wir sparten unser Taschengeld für die Lambarene-Büchse auf dem Pult der Lehrerin, und wir strickten weisse Baumwoll-Binden. Ich nahm mir vor, später in Lambarene zu helfen.“ Nach ihrer Ausbildung an der Hausbeamtinnenschule in St. Gallen war sie dann tatsächlich seit 1962 mit grosser Befriedigung in Lambarene tätig und erzählt auch vom wunderschönen Musizieren mit dem Grand Docteur und der Mitarbeit bei der Korrespondenz: „Die Zeit in Afrika wurde wohl die wichtigste meines Lebens.“

Mit einem Bezug auf Schweitzers Buch von 1921 „Zwischen Wasser und Urwald“ wird auf die Schrecken der Kolonialzeit Bezug genommen:

„Was haben die Menschen draussen Gutes tun wollen oder nicht, sondern wir müssen es. Was wir an ihnen Gutes erweisen, ist nicht Wohltat, sondern Sühne. Dies ist das Fundament, auf dem sich Erwägungen aller ‚Liebeswerke‘ draussen erbauen müssen. Die Völker, die Kolonien besitzen, müssen  wissen, dass sie damit zugleich eine ungeheure humanitäre Verantwortung gegen die Bewohner derselben übernommen haben (...) wir müssen aus dem Schlafe erwachen und unsere Verantwortung sehen.“ 

Albert Schweitzer selber, wurde durch einen Aufruf der Evangelischen Pariser Mission 1904 auf Lambarene aufmerksam. Das Krankheitselend der Schwarzen im ‚Congo‘, der damaligen französischen Kongo-Kolonie, bewogen ihn ab 1913 seine Hilfsarbeit dort zu beginnen, die sein Leben lang dauern sollte. Zusammen mit seiner engagierten Ehefrau Helen Schweitzer-Bresslau, die einen bedeutenden Einfluss auf das Denken und Handeln ihres Mannes hatte, bauten sie gemeinsam das Urwaldspital auf.

„Friede oder Atomkrieg“

Bei der Lektüre des Buches öffnen sich viele Bezüge zu den gegenwärtigen Kriegsverbrechen und sozialen Ungerechtigkeiten. Ein besonders aktuelles Kapitel ist der Friedenstätigkeit Albert Schweitzers gewidmet. In seinem ganzen Wirken steht dies im Zentrum.

Bekannt wurde sein Einsatz in den 50er und 60er gegen den Kriegswahnsinn, gegen Atomwaffen und Aufrüstung. Seine Briefe an Kennedy und Chruschtschow und deren zum Teil bis heute nie veröffentlichten Antworten sind hier wiedergegeben:

„Wir sind in den beiden Weltkriegen in Unmenschlichkeit versunken und nehmen uns vor, in einen kommenden Atomkrieg noch tiefer darin zu versinken“.

Ein Bruchteil der heutigen milliardenschweren Rüstungsausgaben würden ausreichen, um überall auf der Welt viele „Lambarenes“ zu schaffen, Armut und Not zu überwinden. Jo und Walter Munz erinnern sich: „Eindrücklich war der Besuch von Clara Urquhart aus Südafrika und England. Sie hat sich gemeinsam mit Bertrand Russel, Albert Einstein und Albert Schweitzer gegen die Atomwaffen eingesetzt.“ Auch dafür ist der grosse Humanist und Urwalddoktor uns heute ein Vorbild. Im letzten Teil des Buches werden die gegenwärtigen Aufgaben und Probleme für die Weiterführung des Urwaldspitals behandelt.

„Jede Generation muss ihre Aufgaben selber lösen“

Für Schule und Elternhaus stellt sich die dringend nötige Besinnung auf eine nachhaltige Friedenserziehung. Die Schulreformen und die Erziehungsdiskussion sollten auf die inhaltlichen Anliegen der Ehrfurcht vor dem Leben gerichtet werden. Nur dadurch wird eine verlässlichen Grundlage für die Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit möglich. Vom kleinen Kind bis hinauf zum Lehrling oder Studenten kann diese Ethik im Lebensalltag in der mitmenschlichen Beziehung gelegt werden.

Die Frage nach dem Sinn von Schulbildung, Schulerfolg, beruflicher Karriere oder Reichtum muss wieder auf den Dienst am Mitmenschen, das Mitgefühl mit den Armen, die Schaffung von Frieden und auf konstruktives Mitwirken am Gemeinwohl im engeren und weiteren Umfeld auf dieser Welt gerichtet werden. Dazu verhilft die Lektüre aller greifbaren Bücher von Albert Schweitzer und auch vergriffene Bücher wie das von Walter Munz „Albert Schweitzer im Gedächtnis der Afrikaner und in meiner Erinnerung“ aus der Reihe der Albert-Schweitzer Studien. Der Hoffnung von Jo und Walter Munz  ist beizupflichten:

„Wir hoffen, dass die Ehrfurcht vor dem Leben, welche Albert Schweitzer in Lambarene fand und lebte, weit über die Grenzen von Gabun und von Afrika hinaus viele Menschen erreiche und bewege. (...) Sie setzt uns in eine lebendige Beziehung zu aller Kreatur, und sie hilft uns Menschen auf der Suche nach dem Frieden.“

Dem ganzen Wirken von Albert Schweitzer und seinen Nachfolgern ist eine grosse Ausstrahlung zu wünschen.

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.schweitzer.org

Quelle:
http://www.kultur-und-frieden.ch

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